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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Pause vom Krieg: Bonjour tristesse

Daniel Anselmes Roman über drei Algerienkämpfer auf Fronturlaub ist ein Werk von bezwingender Direktheit
Hamburg

Daniel Anselme war ein scharfsinniger Beobachter der Gesellschaft. Der französische Autor hatte ahnen müssen, dass sein Roman über den Algerienkrieg nicht besonders gut bei seinen Landsleuten ankommen würde, die wie die sprichwörtlichen drei Affen weder hören noch sehen noch diskutieren wollten, was „da unten“ passiert. Anselmes Roman über drei junge Soldaten, die über Weihnachten nach Paris zurückkehren, erscheint im dritten Jahr des Algerienkrieges. Insgesamt wird es siebeneinhalb lange Jahre dauern, bis die Waffen niedergelegt werden und das Land seine hart umkämpfte Unabhängigkeit erlangt hat.

Mehr als eine Auflage erlebte „Adieu Paris“ nicht. Ein paar Rezensionen erschienen, dann verschwand das Buch mitsamt seinem Autor sang- und klanglos von der Bildfläche. Wäre dem Briten David Bellos Anselmes Buch damals nicht in die Hände gefallen und von ihm ins Englische übertragen worden, dann wäre es wohl auch dabei geblieben. Julia Schochs deutsche Übersetzung ist jetzt im Arche Verlag erschienen. Ein Glücksfall, denn der Roman passt in die heutige Zeit - nicht nur, aber auch, weil die Spätfolgen des Kolonialismus in der französischen Gesellschaft noch heute schmerzhaft spürbar sind.

Frauenheld Lasteyrie, Kommunist Valette, und der ehemalige Englisch-Dozent Lachaume sind über die Weihnachtstage auf Fronturlaub in Paris. Die Männer eint nicht viel, außer ihre Liebe zum Basketball, ihre Jugend, und ihren Hass auf den Krieg, der ihnen diese Jugend zerstört und der sie bereits auf ihrer Zugfahrt gen Hauptstadt in Gestalt eines nationalistischen, aufdringlichen Kriegsveteranen wieder einholt. Es dauert, bis einer der drei den ehemaligen Unteroffizier endlich in die Schranken weist; indessen wenden die übrigen Passagiere nur den Blick ab und schweigen. Diese Szene, banal wie sie zunächst daherkommt, nimmt bereits vorweg, worum es in Anselmes Roman eigentlich geht: Es ist keine romantische Ode an die französische Hauptstadt, wie das Buchcover suggeriert. Anselmes drei Anti-Helden verkörpern die verzweifelte Wut über den Umstand, seine besten Jahre an einen Krieg verschwenden zu müssen, der erst viele Jahrzehnte später von offizieller Seite überhaupt als solcher bezeichnet wird.

Lachaume quartiert sich in einem Hotel ein, jetzt, wo seine Frau ihn endgültig verlassen hat. Seine Mitbewohner sind ironischerweise Pieds-noirs, also Algerienfranzosen: unangenehme Zeitgenossen, die dem Soldaten aus mit unverhohlenem Hass begegnen. Innen wie außen findet er keinen Halt. Ein alter Freund, der ihn ausfindig macht, erweist sich trotz seines großen theoretischen Wissens über den Krieg als unfähig, sich wirklich in seine Lage zu versetzen. Wie seine Freunde Valette und Lasteyrie streift Lachaume ziellos durch die Pariser Straßen und Kneipen, und wie die beiden anderen findet er sich im Pariser Alltag plötzlich nicht mehr zurecht. Einzig die etwas ältere Lena, eine in Paris gestrandete Deutsche und wie er eine gescheiterte Existenz, lässt er an sich heran.  

Der Erzähler lässt einen Lachaume mit sehr gemischten Gefühlen seine Fahrt in einen Pariser Vorort antreten, wo er zum Neujahrsessen bei  Valettes Familie erwartet wird. Der junge Intellektuelle ist zwar angetan von ihrer Gastfreundschaft und der unkomplizierten Art der Frauen in der Familie. Patente Lösungen haben aber auch die Valettes, allesamt überzeugte Kommunisten und Kriegsgegner nicht parat. Zwar sammelt man Unterschriften gegen den Krieg; auf die beiden jungen Männer wirkt das aber ebenso absurd wie die Prämie, die man ihnen nach geleistetem Dienst in Aussicht stellt. Die stärksten Argumente gegen den Krieg werden am Ende nicht die Kommunisten vorgebracht haben, sondern die Soldaten wider Willen.

Das Familienidyll ist auch für den einst idealistischen Valette längst vom „Gespenst des Krieges“, das den Soldaten wie ein Schatten folgt, unrettbar zerstört worden. Zur Wut über die Lethargie ihrer Verwandten gesellt sich Verzweiflung darüber, dass der Abfahrtstermin unaufhaltsam näher rückt. In den letzten Stunden vor der Abreise soll noch einmal die Stadt unsicher gemacht werden, doch es ist die Stadt, die die jungen Männer nun verunsichert. Das winterlich-graue, regnerische Paris zeigt seinen Söhnen die kalte Schulter.  Von Bar zu Bar ziehend, vermögen sie nicht mehr nachzuvollziehen, was den Pomp der Champs-Élysées eigentlich rechtfertigt. Die sorglos durchs nächtliche Paris flanierenden Menschen sind außerstande, den dreien die geballte Ladung an Wehmut und Verzweiflung vom Gesicht abzulesen, denn „niemand achtet auf die Gesichtszüge eines Soldaten, es sei denn, ihm wurde gerade die Fresse poliert“.

Auch wenn Anselmes „Adieu Paris“ ein Nouvelle-Vague-Roman avant la lettre gewesen sein mag, wie die Übersetzerin in ihrem sehr aufschlussreichen Nachwort schreibt – das Buch hatte wohl nie wirklich das Zeug dazu gehabt, ein moderner Klassiker zu werden. Die Charaktere bleiben flach, und auch mit außergewöhnlicher Erzählkunst tut sich der Autor, der 1927 als Daniel Rabinovitch zur Welt kam, nicht hervor. „Adieu Paris“, im Original schlicht „Der Fronturlaub“ (La Permission), ist aus ganz anderen Gründen ein Buch, das es neu zu entdecken gilt. Der ehemalige Résistance-Kämpfer Anselme erzählt von unsagbaren und unerhörten Dingen, und das tut er auf so beiläufige und unorthodoxe Weise, dass die Erwartungen seiner Leser vielleicht enttäuscht, ihre Lesegewohnheiten hingegen ordentlich aufgestört werden.

Als Antikriegsroman ist das Buch so effektvoll, weil seine Botschaft so wenig plakativ ist, und weil es schonungslos von persönlichen Ausnahmezuständen erzählt. Statt von großer Symbolik und plumper Propaganda Gebrauch zu machen, lässt der Erzähler immer wieder in Nebensätzen durchschimmern, welche Abgründe sich in den Seelen der Fronturlauber auftun.  Da kommen in flüchtigen Tag-Alpträumen Erinnerungen an brennende Dörfer hoch, da sieht Lachaume Valette und sich selbst tot im Wadi liegen. Viele Jahre, bevor die Posttraumatische Belastungsstörung bei Afghanistan- und Irak-Rückkehrern auch dank Film und Medien ins öffentliche Bewusstsein rückte, brachte Anselme mit ungeheurem Feingefühl und genialem Sarkasmus auf den Punkt, was Krieg mit den Seelen der an ihm Beteiligten anrichtet. Anselmes Roman ist - wie die Stadt, in der er spielt - ungemütlich und gnadenlos. Genau das macht ihn so lesenswert.

Daniel Anselme
Adieu Paris
Aus dem Französischen von Julia Schoch
Arche
2015 · 208 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-7160-2719-6

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