Kritik

Luftminen im Paradies

Hamburg

Schon der Einband der neuen Gedichtsammlung von Doris Runge warnt mit seinen  graphisch eigenwillig gestalteten Vogelflugformationen in einem Schönwetterhimmel: Vorsicht! Ist das Stacheldraht? Sind es endlose, vielfach gebeugte Wirbelsäulen? Oder gar DNA-Verschlingungen? Auf alle Fälle deuten all diese (und sicher noch nicht vollständig aufgelisteten) Konnotationen auf eine radikale Brechung des vordergründig so harmlos- spielerischen Titels "man könnte sich ins blau verlieben" hin, eine Brechung, die sich beim Lesen in den Texten vollziehen muss.

Der Band eröffnet denn auch mit "federn im eis", dem ersten der insgesamt sechs etwa gleichlangen Zyklen, und kaum eine Wortkonstellation wäre besser geeignet, eine Empfindung von Schutzlosigkeit und Abweisung aufrufen. So mutet das erste Gedicht wie ein Motto an:

" landeplatz // für engel / langhälsige / entenfüßige / heimwehkranke // für musen / auf der suche / nach geöffneten / fenstern"

In den folgenden Gedichten meint man einen fast mythischen Unterton zu vernehmen, von im See versunkenen Sommerbräuten ist die Rede (im dem Zyklus den Titel gebenden "federn im eis"), von Meerjungfrauen, die die Treue des Liebsten vor der menschlichen Konkurrentin beschwören ("an die zweibeinige"), von faustischen Pakten in leichten Worten ("das seelchen") und einer "dornröschenschlacht" ("aus dem märchen"). Sicher kein Zufall, dass  als atmosphärischer Pate ein naturmagischer Dichterkollege fungiert:

"dann ist / der sommer / ein zaubervogel // aus einem lied / von wilhelm lehmann // heilig und heidnisch / heiß und sehr kurz"

Dabei folgen die Gedichte keiner zwingenden thematisch orientierten Anordnung, es ist eher der ihnen innewohnende Ton von Nachdenklichkeit und gelegentlich aufblitzender leiser Ironie, der die Reihung gleichsam spielerisch vorgibt und dann gegen Ende des ersten Teils sogar die bodenständige Ordnungsmacht im zerstreuten Dichterinnenleben auftreten lässt:

"frau k // am ende ist sie / die kraft / die entsorgt / auch pflanzen / bettet sie um / ihrem staubwedel / entgeht nichts / kein flügel / kein flatterndes wort / sie wischt / und fegt und zieht / wenn sie geht / die vorhänge zu"

Die Gedichte von Doris Runge zeichnen sich durch formal-moderne Schlichtheit aus, extrem kurze Zeilen aus manchmal nur ein oder zwei Worten, die mitunter die Bedeutungen zwischen den Zeilenbrüchen changieren lässt. Selten sind sie länger als zwanzig Zeilen,  manchmal sogar von einer fast japanisch anmutenden Transparenz und Tiefe oder von einer emblematischen Kürze wie der Text "schwarze wörter":

"in der dämmerung / fallen sie ein / mit blutigen / schnäbeln / und windigen / geschichten / besetzen / ihren schlafbaum / mich"

Konsequente Kleinschreibung und Interpunktionslosigkeit sind weitere äußerliche Merkmale, die sich gut verbinden mit den schon erwähnten Ambivalenzen der Zeilenbrüche, gelegentliche (Binnen-)Reime bleiben die Ausnahme und wirken (auch wenn sie es sicher nicht sind) wie zufällig. Runge kommt weitgehend ohne Neologismen aus, und wenn sie sie gebraucht, dann stehen sie stets im Dienst der lakonischen Präzision, mit der sie zu Werke geht. Von "grömitzergrütze", von "landsendstiefeln" und dem "lilalangenschal" ist da die Rede, und diese Begriffe sind in ihrem jeweiligen Zusammenhang bildgebende Elemente für ihre Leserschaft.

In den weiteren Zyklen thematisiert die Lyrikerin Alter und Tod, scheiternde Lebensbeziehungen, letzte Liebe, die Natur und vielfach reflektierte Kunst, selbst Reisegedichte sind dabei. Das ist, wie schon angedeutet, kein Ausdruck von Beliebigkeit. So eigenständig jedes Gedicht aufs erste Lesen hin zu sein scheint, so häufig ergeben sich doch von Text zu Text konnotative Verbindungslinien, wenn etwa in "heiligendamm" der Begriff "nizzaweiß" mit den "drohnen" der folgenden Zeilen gedanklich zu korrespondieren beginnt:

"ein betonflügel // trägt dich hinüber / himmel / so viel du magst / graugeflügelte / drohnen / begleiten dich / der himmel / unbemannt"

Die beiden Gedichte jeweils für sich genommen scheinen wenig bis nichts mit Politik zu tun zu haben, und doch rufen die drei genannten Worte die Erinnerung an vieldiskutierte  Wirtschaftsgipfelschlachten des frühen 21. Jahrhunderts wach. Oder einen unterschwellig-schalkhaften Goethebezug, wenn zwei aufeinanderfolgende Gedichte "marienbader tango" und "karlsbader elegie" heißen. Auch das "tödlein auf der gartenbank", das angesichts der Eheleute, die sich soeben gegenseitig massakriert haben, trocken feststellt:

"ich habe schon immer / gewusst / ihr seid euch genug / mich braucht ihr nicht"

schwingt im folgenden Gedicht nochmals mit, in dem ein Konflikt beim Frühstück mit den Attributen "vermint" und "zündschnur" verbunden wird:

"der kaffee ist / schwarz und bitter / sie köpft / das ei"

Die Anwesenheit des Todes, gleichsam als ein Schatten des lyrischen Ichs im Hintergrund, ist ganz vielen dieser Texte eingeschrieben, und Runge setzt sich elegant-spielerisch damit auseinander, wenn es beispielshalber "mit dem fahrstuhl / in rapunzels zimmer" geht oder ganz hinten im Schrank "im plastiksarg / das schneewittchenkleid" wieder aufgefunden wird. Nur manchmal, wenn das Subjekt sich als Mensch und Gestalterin von Leben und Kunst seine Einsamkeit mit auch für sich selbst erschreckender Klarheit vergegenwärtigt, enthält sich die Dichterin ganz der Ironie, und in der scheinbaren Vergeblichkeit blitzt dennoch etwas auf wie eine letzte Erwartung:

heimreise // letzte ziele / programmiert / ich sehe / schutzheilige / in dunklen / eichenkleidern / mit eulenaugen / die zeit anhalten / ich sehe sie / die ich vermisse / mit der ich reise / braune zöpfe / rosa libellen / ich sehe / zwei kinder / und die alten / hand in hand / und mich / losgelassen"

Doris Runge
man könnte sich ins blau verlieben
Wallstein Verlag
2017 · 88 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-8353-3044-3

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