Erinnerung als erfundene Wahrheit
Da ein Boxkampf normalerweise zwölf Runden dauert, könnte man annehmen, in Eduardo Halfons „Roman in zehn Runden“ sei dem Autor vor dem eigentlichen Ende die Puste ausgegangen. Unnötig zu betonen, dass das Gegenteil der Fall ist und die als Runden bezeichneten zehn Kapitel bis zum letzten Satz ihre Spannung behalten. Diese kommt nicht zuletzt daher, dass jede Episode einerseits fast in sich abgeschlossen ist, dem Autor es aber dennoch gelingt, die Geschichten zu einem Ganzen zu verbinden.
Der Roman setzt mit der Tätigkeit des Ich-Erzählers als Dozent für Literatur ein, und es ist kein Zufall, dass er als Alter Ego des Autors Eduardo heißt. Wie überhaupt der Roman einige biografische Elemente enthält und den Leser des sowohl in Guatemala als auch in den USA beheimateten Autors bei seiner Suche nach Identität und Wahrheit auf eine Reise durch drei Kontinente mitnimmt.
Der Roman setzt damit ein, dass Eduardo als Dozent versucht, Studenten, die Bedeutung von Literatur beizubringen, was er in Wirklichkeit auch an der Universidad Francisco Marroquín in Guatemala gemacht hat.
Eine Erzählung erzählt immer zwei Geschichten, lasen wir. Die Erzählung soll durch ihren Bau auf künstliche Weise etwas Verborgenes zum Vorschein bringen.
Das Doppelbödige, das sowohl literarischen Texten als auch der Wirklichkeit eigen ist, wird also gleich zu Beginn thematisiert. Da aber seine Zuhörer größtenteils analphabetische Studenten sind, setzt er seine Hoffnungen auf den einzig Interessierten, den Indio-Jungen Juan Kalel, der selbst schöne Gedichte schreibt, sich aber nach dem Tod des Vaters exmatrikulieren muss. Wie äußerlich auch Literaturexperten ihr Sujet bleibt, wird im zweiten Kapitel (der zweiten Runde) ausgeführt¸ als Eduardo eine Konferenz in Durham über Mark Twain besucht.
Während sich diese beiden Kapitel mit Aufgaben der Literatur beschäftigen, nimmt die eigentliche Handlung im dritten Kapitel an Fahrt auf. Denn in der Kolonialstadt Antigua begegnet Eduardo bei einem Kulturabend dem serbischen Pianisten Milan Rakić. Die beiden finden sich in Gesprächen über Jazz. Diese Begegnung steht für zwei Motive, die, um in der Sprache der Musik zu bleiben, im weiteren Roman in immer wieder verschiedenen Variationen anklingen. Zum einen die Bedeutung der Wirklichkeit, die sich in Wörtern niederschlägt. Eines seiner Stücke hat der sowohl von Eduardo als auch von Milan verehrte Thelonious Monk Epistrophy genannt, über dessen Bedeutung sich Eduardo und Milan streiten.
Epistrophy bedeutet, glaube ich, so etwas wie Wendung oder Umkehrung, sagte ich. Epistrophy bedeutet überhaupt nichts, rief Milan und lächelte verschmitzt. Das hat sich der Mistkerl einfach ausgedacht.
Bei seiner späteren Suche nach dem verschwundenen Milan wird Eduardo noch vielen Zweideutigkeiten, Lügen oder Rätsel begegnen.
Das zweite wichtige Motiv, das die beiden verbindet, ist die Suche nach der eigenen Identität. Milan, halb Serbe, halb Zigeuner, identifiziert sich zunehmend mit der Welt seines Vaters, der Akkordeon spielend durch das Land zieht. Wie er möchte er keine klassische Musik mehr spielen, sondern Nomade sein.
Aber jeden Tag muss ich mindestens einmal Zigeunermusik hören, irgendetwas von Boban Marković oder Olah Vince oder Šaban Bajramović.
Völlig anders ist es bei Eduardo, der mit dem Judentum seiner Eltern und Großeltern nichts zu tun haben möchte.
…konnte ich nur daran denken, dass die einen sich um jeden Preis von ihren Vorfahren absetzen wollen, während die anderen sich mindestens ebenso heftig nach ihren Vorfahren sehen. Dass die einen vor der Welt ihres Vaters davonlaufen, während die anderen lautstark nach ihr rufen. Dass ich das Judentum gar nicht weit genug hinter mir lassen konnte, während Milan nie nahe genug an die Welt der Zigeuner herankommen würde.
Dass es für Eduardo unmöglich ist, sich von den Vorfahren und deren Vergangenheit zu lösen, wurde dem Leser schon einige Seiten zuvor deutlich, als nämlich die Erwähnung von Chopin genügte, um Eduardo an seinen polnischen Großvater denken zu lassen, der in Auschwitz (angeblich) von einem polnischen Boxer gerettet wurde und ein paar Seiten weiter schreibt er:
Danach beim Händewaschen, musste ich an meinen Großvater denken, an Auschwitz und an die fünf grünen Zahlen, die in seinen Unterarm tätowiert waren. Als Kind hatte ich geglaubt, sie stünden dort – er selbst hatte das behauptet -, damit er jederzeit seine Telefonnummer parat hätte.
Diese Erklärung war offensichtlich unwahr, aber auch dass der polnische Boxer, der dem Roman den Titel gab, ihn vor der Erschießung gerettet hat, indem er mit ihm übte, was der Großvater beim Verhör sagen durfte und was nicht, erweist sich später als fraglich, weil der Großvater einer Zeitung erzählte, er habe das Lager überlebt, weil er ein so geschickter Schreiner gewesen sei.
Ganz rätselhaft wird der Roman im Zusammenhang mit Milan. Eine Zeit lang schickt er Eduardo eng beschriebene Postkarten, die meist von Geschichte und Kultur der Zigeuner handeln. Als die Postkarten ausbleiben, reist Eduardo nach Belgrad, um ihn zu suchen und taucht dort in teilweise kafkaesken Szenen in die Subkultur der Zigeuner ein. Wie in einer Traumszene geht er dabei am Schluss von einer Tür durch eine andere, wobei er glaubt Klaviermusik zu hören.
..und ich dachte, dass die Linien meines Lebens gezogen worden waren, um sich allesamt in diesem Moment zu kreuzen, da, an eben diesem Punkt, in eben dieser Sekunde, vor dieser geisterhaften Erscheinung, die so zigeunerisch war und so türkis, und plötzlich war mir, als könnte ich durch die Rauchschwaden hindurch das Gesicht von Milans Vater ausmachen, das zugleich das Gesicht meines eigenen Vaters war, der sich auf Romanes an mich wandte oder vielleicht auf Jüdisch und mir eine Hand bot, damit ich sie nahm und mir helfen ließe.
Was also ist Wirklichkeit? Und welche Rolle spielt die Literatur? Diese Fragen greift Halfon im vorletzten Kapitel noch einmal auf. Die Literatur zerreißt die Wirklichkeit, lautet nämlich das Thema, zu dem Eduardo für eine Konferenz einen Vortrag halten soll. Nachdem er sich zuerst mit dem Wort zerreißen auseinandersetzt, zieht er – wieder im Zusammenhang mit den Geschichten seines Großvaters – folgendes Fazit:
Die Literatur ist bloß ein guter Trick, wie auch Zauberer oder Hexer sie verwenden, um die Wirklichkeit vollständig erscheinen zu lassen, um vorzutäuschen, die Wirklichkeit sei eins und in sich abgeschlossen. Vielleicht muss die Literatur aber auch eine Wirklichkeit konstruieren, indem sie eine andere Wirklichkeit zerstört – mein Großvater hatte genau das instinktiv gewusst – anders gesagt, sie muss sich selbst zerstören, um sich anschließend aus ihren eigenen Bruchstücken neu aufbauen.
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