Freundschaft zwischen Liebe und Verrat
In dem Trailer zum ersten Band von Elena Ferrantes Meine geniale Freundin ist noch von der großen Unbekannten der Weltliteratur die Rede. Inzwischen hat der Journalist Claudio Gatti anhand interner Quellen herausgefunden, wieviel der römische Verlag Edizioni e/o an die Autorin überwiesen und wann sie wo welche Wohnung gekauft hat, um medienwirksam gegen den Willen der Autorin deren Klarnamen und zugleich die Geschichte ihres deutsch-jüdischen Hintergrundes zu publizieren. Doch ungeachtet dieses Ereignisses geht, wie der Suhrkamp-Verlag schreibt, die Saga weiter und wir belassen es auch beim zweiten Band bei dem von der Autorin gewählten Pseudonym.
Vor mir liegen die italienische und die deutsche Ausgabe von Die Geschichte eines neuen Namens. Während auf dem italienischen Cover ein von hinten fotografiertes engumschlungenes Paar vor blauen Hintergrund zu sehen ist, steht auf dem deutschen, ganz in rosa und lila gehaltenen Umschlag eine stilisierte Braut auf einem Balkon, hält einen Strauß Rosen in der Hand und blickt zum schneebedeckten Vesuv. Es scheint also um Liebe zu gehen.
Aber wer den ersten Band über die beiden Freundinnen Lila und Lenú gelesen hat, weiß schon, dass diese Bilder trügerisch sind. Denn der zweite Band knüpft nahtlos an der Handlung des ersten an, mitten in Lilas Hochzeit, nur, dass hier die Braut bereits kreidebleich und Stefano, der Bräutigam, ohne ein Lächeln war. Von ihrer Hochzeitsreise kommt Lila mit blauen Flecken und großer Verstörung zurück, hat ihr Mann sie doch in der Hochzeitsnacht windelweich geprügelt und vergewaltigt. Ein Gewaltausbruch, der sich wiederholen und der von Stefanos Verwandten und Bekannten gutgeheißen wird. Dies ist der Auftakt einer schrecklichen Ehe, in der sich die widerspenstige Lila gefangen fühlt und aus der sie verzweifelt einen Ausweg sucht.
Lenú hingegen will ihre Herkunft und die emotionale Abhängigkeit von ihrer Freundin hinter sich lassen. Sie bleibt die Vorzeigeschülerin, macht Abitur und bekommt ein Stipendium für ein Studium in Pisa.
Wie im ersten Band ist die Beziehung der beiden Freundinnen abwechselnd von Nähe und Distanz bestimmt, wobei keine Verletzung zur endgültigen Trennung führt. In ihrer Verzweiflung klammert sich Lila an Lenú:
Ich verstand, dass sie, egal wie sehr sie um sich schlug, sich bemühte und laut wurde, keinen Ausweg fand: Seit dem Tag ihrer Hochzeit quälte sie ein wachsendes, immer schlechter gebändigtes Unglück, und das tat mir leid. Ich bat sie, sich zu beruhigen, sie nickte.
»Du musst versuchen, ruhig zu bleiben.«
»Hilf mir.«
»Wie denn?«
»Bleib in meiner Nähe.«
Ernsthaft in Gefahr ist die Freundschaft allerdings, als sich Lila bei einem gemeinsamen Sommerurlaub auf Ischia in Nino Sarratore verliebt, in den Lenú schon seit ihrer Kindheit verliebt ist. Im Gegenteil zu der schüchternen und von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Lenú geht Lila trotz ihrer Ehe aufs Ganze, schläft mit Nino, was Lenú dermaßen in Verzweiflung stürzt, dass sie sich von Ninos Vater entjungfern lässt. Lila verlässt ihren Ehemann und zieht mit Nino zusammen. Dieses Zusammenleben dauert nur dreiundzwanzig Tagen, nun verlässt Nino seinerseits Lila, obwohl sie schwanger ist und glaubt, das Kind sei von ihm. Für eine Weile kehrt sie zu Stefano zurück, ehe sie ihm und dem damit verbundenen Reichtum endgültig den Rücken kehrt und zu Enzo, einem Freund aus Kindetagen, zieht.
Hinter diesen Sätzen, die sich auf die äußere Handlung beziehen, verbirgt sich eine gefährliche Mischung aus Liebe und Verrat. Sie ist mit unzähligen inneren und äußeren Verletzungen verbunden, hauptsächlich für Lila, teilweise auch für Lenú.
Diese versucht inzwischen sich als Studentin zwischen all den Kommilitonen aus angesehenen Familien zu behaupten, verlobt sich mit Pietro Airota, obwohl ihr von Beginn an bewusst ist, dass sie sich weniger in ihn als in seine Herkunft verliebt hat. Dessen Mutter ist es auch, die ihr hilft, eine Schriftstellerin zu werden.
Dieser in Kürze wiedergegebene Plot ist aber nur ein Teil des Romans. Ein anderer Teil handelt von Lilas Wunsch der Auslöschung, mit dem der erste Band Meine geniale Freundin beginnt, als nämlich Lila verschwindet, ohne auch nur irgendetwas von sich zurückzulassen. Lenú glaubt nicht an einen Selbstmord, ist allerdings über Lilas Verschwinden auch nicht sonderlich überrascht. Denn Lila wollte sich schon immer auslöschen. An einer Stelle des Romans überklebt und übermalt sie ein Foto von sich, dass fast nichts mehr von ihr zu sehen ist. Dabei erklärt sie Lenú, wie sie ihren neuen Namen empfindet.
Während wir mit Pinsel und Farbe hantierten, erzählte sie mir, sie sehe in dieser Namensformel nun eine Umstandsbestimmung der Richtung, ganz als wäre Cerullo verheiratete Carracci so etwas wie Cerullo geht in Carracci ein, stürzt hinein, wird davon aufgezogen, löst sich darin auf.
...seit der Hochzeitsreise und den Schlägen bis hin zu jenem Sichteinnisten von etwas Lebendigem, das Stefano gewollt hatte, in die Leere, die sie in sich spürte, war sie in wachsendem Maße von einem unerträglichen Gefühl überwältigt worden, von einer immer drängenderen Kraft, die sie, Lila, zersetzte.
Die Geschichte eines neuen Namens ist also nicht der harmlose Namenswechsel bei einer Eheschließung, sondern bedeutet die Beschreibung zahlreicher Abgründe, die in der Faszination der Selbstauslöschung enden.
Dies alles erfahren wir von der Ich-Erzählerin Elena Greco, die als Sechzigjährige die ganze Geschichte von Lila und Lenú erzählt. Sie ist diejenige, die den Stoff ordnet, die gleichzeitig erzählende und handelnde Person ist. So geht es in dem Buch auch ums Schreiben, wobei die Ich-Erzählerin uns an ihrem Schreibprozess und an den Schwierigkeiten, die richtige Sprache zu finden, teilhaben lässt. Obwohl sie nämlich eine erfolgreiche Schriftstellerin geworden ist, quält sie ihr Leben lang die Erkenntnis, dass Lila, die nie eine weiterführende Schule besucht hat, eigentlich die bessere Autorin ist.
Zu Beginn des zweiten Bandes erfahren wir rückblickend, dass Lila ihr eine Blechschachtel anvertraut hat, in der sie acht Schreibhefte aufbewahrte, die sie vor Stefano verstecken will. Lenú muss schwören, sie nicht zu lesen, aber sie kann der Versuchung nicht widerstehen und stellt bald eifersüchtig fest, dass von den Heften eine verführerische Kraft ausgeht. Sie sieht die Qualität von Lilas Schreiben und beschäftigt sich wochenlang damit. Dann begeht sie an Lila einen Verrat.
Schließlich ging ich im November wütend aus dem Haus und nahm die Blechschachtel mit. Ich hielt es nicht mehr aus, Lila in mir zu spüren, auch jetzt noch, da ich großes Ansehen genoss, auch jetzt noch, da ich ein Leben außerhalb von Neapel hatte. Auf dem Ponte Solferino blieb ich stehen und betrachtete die vom eiskalten Dunst gefilterten Lichter. Ich stellte die Schachtel auf die Brüstung und schob sie langsam, Stück für Stück, von mir weg, bis sie in den Fluss fiel, als wäre sie Lila persönlich.
Dennoch gibt Lenú zu, dass die Blaue Fee, die Geschichte, die Lila als Grundschülerin geschrieben hat, das Herz ihres ersten Romans ist.
Auch die gesprochene Sprache, spielt eine große Rolle in dem Roman. Da es im gesellschaftlichen und familiären Zusammenleben voller Konventionen, Gewalt und mafiösen Strukturen nicht gleichgültig ist, ob man Dialekt oder Italienisch spricht, wird je nach Situation das entsprechende Idiom betont. Doch für Kinder aus dem Rione ist es gar nicht so einfach, den Dialekt abzulegen oder mit Bekannten Italienisch zu sprechen, selbst wenn sie es wollen.
Am Ende des Romans stellt Lenú fest, dass ihre Sprache zu einem Zeichen der Fremdheit geworden ist. Selbst wenn sie mit ihrer Familie im Dialekt spricht, bleiben ihre Sätze zu kompliziert. Umgekehrt sind für ihre Umgebung in Pisa die ganzen Anstrengungen, den neapolitanischen Dialekt aus ihrer Sprache zu verbannen, umsonst.
Wie das Titelbild zu versprechen scheint, kommt die Geschichte durch den Erzählton oberflächlich betrachtet leicht daher. Tatsächlich steckt sie voller Untiefen und überraschenden Wendungen. Über den Plot hinaus, ist es die Geschichte einer Schriftstellerin, die ihre Stimme sucht.
Die Übersetzerin dieses umfangreichen Werkes Karin Krieger ist zu bewundern. Ihr gelang es in ziemlich kurzer Zeit die Atmosphäre der beiden ersten Romane plastisch darzustellen, nun kündigt der Verlag Band 3 schon für das Frühjahr und Band 4 für den Herbst an. Wie gesagt, die Saga geht weiter. Wir sind gespannt.
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