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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Kein bisschen Bella Napoli für Lila und Lenù

Hamburg

Sechs Personen suchen einen Autor, hieß das Theaterstück von Luigi Pirandello, das 1921 erschienen ist und später auf allen europäischen Bühnen gespielt wurde. Der italienische Roman Meine geniale Freundin hat mit Elena Ferrante zwar eine Autorin, aber außer den Verlegern des römischen Verlags Edizioni e/o weiß trotz vielfältiger Recherchen niemand, wer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt. Sicherlich trägt das Geheimnis um die Urheberschaft dieser vier Bände und 1700 Seiten umfassenden neapoletanischen Saga zu dem Erfolg, ja, zu dem Hype bei, den die Bücher in Italien, in Großbritannien und den USA haben. Inzwischen gibt es einen Hashtag (#ferrantefever) und von der italienischen Produktionsfirma Wildside ist eine Verfilmung der Romane in einer 32-teiligen Serie geplant. Nun ist der erste Band bei Suhrkamp erschienen.

Zu erzählen gibt es wahrlich genug. Dies zeigt schon die Tatsache, dass das Buch eine Liste der handelnden Personen enthält, und das ist auch unbedingt notwendig. Denn bei neun Familien mit 23 Kindern, die alle eine größere oder kleinere Rolle spielen, kann man schon mal die Übersicht verlieren. Hinzu kommen noch mehrere Lehrer und Lehrerinnen.

Im Zentrum der Handlung stehen die beiden Mädchen Lila, die eigentlich Raffaella heißt, und Elena, genannt Lenù. Die beiden verbindet eine lebenslange, schwierige Freundschaft. Und außer der unbekannten Autorin ist es wohl die Geschichte dieser beiden ungleichen Mädchen, die den Erfolg des Romans begründet.

Dabei zeigt sich schon in diesem ersten Band, der unter dem Titel L’amica geniale 2011 in Italien erschienen ist, dass diese Freundschaft nicht unproblematisch ist. Denn zwischen den Mädchen besteht eine latente Konkurrenz, mal sind sie sich nah, mal gehen sie sich längere Zeit aus dem Weg.

Der erste Band beginnt mit einem Prolog, in dem die 66jährige Elena sich entschließt, die Geschichte ihrer Freundschaft mit Lila aufzuschreiben, weil die gleichaltrige Lila verschwunden ist und jede Spur von sich gelöscht hat. Elena weiß warum.

Seit mindestens drei Jahrzehnten erzählt sie mir, dass sie spurlos verschwinden möchte, und nur ich weiß, was sie damit meint. Sie hat nie eine Flucht im Sinn gehabt, einen Identitätswechsel, den Traum, anderswo ein neues Leben zu beginnen. Sie hat auch nie an Selbstmord gedacht…Nein, ihr schwebt etwas anderes vor: Sie wollte sich in Luft auflösen, wollte, dass sich jede ihrer Zellen verflüchtigte, nichts von ihr sollte mehr zu finden sein.

Die Ich-Erzählerin blickt also zurück, wobei sie sagt, dass sie sich nicht gern an ihre Kindheit erinnert. Die 1944 geborenen Elena und Lila wachsen in dem armen Viertel Rione auf, dessen Zerstörungen nicht nur anhand der Ruinen zu sehen sind. Es herrscht ein Klima voller Gewalt in diesem Kosmos, aus Handwerkern, von denen jeder weiß, dass man sich mit den örtlichen Mafiosi besser nicht anlegt. Alles scheint gottgegeben zu sein, Ehemänner verprügeln ihre Frauen, Väter ihre Kinder und schon die Kleinen lernen, Konflikte mit Gewalt zu lösen. In diesen Szenen geht die Autorin ganz nah an das Geschehen heran, wobei nichts beschönigt wird.

Wir waren zehn Jahre alt, in Kürze würden wir elf sein. Ich wurde immer runder, Lila blieb klein und spindeldürr, sie war leicht und zart. Plötzlich verstummte das Geschrei, und wenige Augenblicke später flog meine Freundin über meinen Kopf hinaus aus dem Fenster und landete hinter mir auf dem Asphalt.
Mir blieb der Mund offen stehen. Fernando erschien am Fenster und brüllte noch immer schreckliche Drohungen gegen seine Tochter. Er hatte sie herausgeworfen wie ein Stück Holz.

Lilas Art sich zu wehren besteht in ihrer Aufsässigkeit und ihrer Intelligenz. Sie ist in der Lage einen Jungen mit dem Messer zu bedrohen und gleichzeitig in der Schule immer die Beste zu sein. Und sie lernt schnell, dass man nur etwas zählt, wenn man reich ist. Und Elena, obwohl sie viel schüchterner ist als Lila, versucht ihr nachzueifern.

Ich widmete mich dem Lernen und vielen anderen schwierigen Dingen, die mir fernlagen, nur, um mit diesem schrecklichen strahlenden Mädchen Schritt halten zu können.

Als die weiterführende Schule beginnt, trennen sich die Wege der beiden, denn während Elenas Eltern ihr wegen der Fürsprache der Lehrerin widerwillig erlauben, die Mittelschule zu besuchen, muss Lila in der väterlichen Schusterei helfen. Wie schwer diese Entscheidung Lila trifft, zeigt Elena Ferrante daran, dass Lila heimlich Latein und später Griechisch lernt, um mit ihrer Freundin mithalten zu können. Da ihr dies natürlich nicht die Schule ersetzten kann, entwickelt sie mit der Zeit andere Strategien, um reich zu werden.

Elena hingegen wird mit eiserner Disziplin eine sehr gute Schülerin. Sie lernt über den Horizont ihres Viertels hinauszublicken, kann aber ohne Lila ihre Erfolge nicht richtig annehmen.

Mir war das Lernen, das Lesen, mittlerweile zu einer angenehmen Gewohnheit geworden. Doch schnell musste ich erkennen, dass die Schule oder auch die Besuche in Maestro Ferraros Bibliothek, seit Lila mich nicht mehr anstachelte, seit sie mir beim Lernen und bei der Lektüre nicht mehr zuvorkam, aufgehört hatten, eine Art Abenteuer für mich zu sein, und nur noch etwas waren, was ich gut konnte und wofür ich viel Lob erhielt.

Selbst als Lila eigene Schuhe entwirft und ihren Vater und Bruder überzeugen will, die Schusterei zu einem größeren Geschäft auszubauen, versucht Elena, sich Lilas neue Leidenschaft zu eigen zu machen.

Dieser erste Band handelt von der Kindheit und frühen Jugend der beiden Mädchen, beginnt bei der Einschulung und endet, als Lila mit erst 16 Jahren den vermögenden Stefano heiratet. Eine Heirat, die sie kühl geplant und von der sie sich auch Hilfe für ihre Pläne mit der Schusterwerkstatt versprochen hat. Die Handlung erstreckt sich also über zehn Jahre, wobei es der Autorin in vielen Szenen darum geht, zwischen all den kindlichen Spielen, Pubertätsproblemen und ersten Liebeleien, die schmerzhafte Entwicklung und Erfahrung dieser Mädchen zu beschreiben. Denn obwohl Elena, nach der Mittelschule das Gymnasium besucht, obwohl sie sich außerhalb des Rione bewegt, bleibt sie ein unsicheres Mädchen, das darum kämpft ihren Weg außerhalb ihrer Herkunft zu finden. Lila hingegen scheint ihre Rolle als reiche Gattin gefunden zu haben. Aber schon bei der Hochzeitsfeier wird deutlich, dass ihr Mann sie betrügt. Vorerst nur, indem er ausgerechnet einem von ihr verhassten Mafiso ihren ersten selbstgemachten Schuh geschenkt hat.

Der Suhrkamp Verlag hat bereits angekündigt, dass im Frühjahr und Herbst 2017 die anderen drei Bände der Saga erscheinen werden.

 

 

Elena Ferrante
Meine geniale Freundin
Band 1 der Neapolitanischen Saga (Kindheit und frühe Jugend)
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp
2016 · 422 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42553-4

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