Aufforderung zum Massaker
„Das lange Echo” – so der Titel des ersten Romans vom Schreibtisch der 1983 in Klagenfurt geborenen, in Ljubljana aufgewachsenen Österreicherin Elena Messner – ruft über 100 Jahre herauf aus dem im Ersten Weltkrieg, aus dem von Österreich-Ungarn besetzten Serbien, um eine Ungeheuerlichkeit aufzudecken, die während der 100-Jahr-Feiern des Weltkriegs neuerlich bemäntelt werden soll. Die Autorin nutzt dazu die Familiengeschichte der Protagonisten Milan und Vida Nemec.
Milan ist Offizier der k.u.k. Armee, nach einer Verletzung in den beiden ersten Kriegsjahren nach Belgrad abkommandiert, wozu er Frau und Söhne in der Haupt- und Residenzstadt zurücklassen muss.
Vida wiederum heißt die junge Historikerin, die an der Ausstellung zum Thema „100 Jahre Erster Weltkrieg” im Wiener heeresgeschichtlichen Museum mitarbeitet und sich dabei mit ihrer Chefin, Doris, in die Haare gerät.
Beide Erzählstränge verschlingen sich zum Showdown auf einer Parkbank am Wiener Gürtel, als die Urenkelin ähnlich wie der Vorfahr reagiert und versucht, die Geschichte zu heilen: Vida beginnt eine Liebesgeschichte mit einem Opfer der Gegenseite, weil sie sich für die eigene Position – der Täterseite entstammend – schämt. Feministisch übereifrig wird Messner dabei auch noch dem Muster gerecht, dass die sexuell frustrierte Chefin auf den finanziell unterlegenen Kollegen vom Balkan ein Auge geworfen hat, nachdem sie ihm bereits das Ausstellungskonzept aufgedrückt hatte. Dagegen ist Vidas Liebe lauter.
Wie wir auf dem Klappentext lesen können, hat Elena Messner, die aus einer slowenisch-österreichischen Familie kommt, an einem Kakanien-Projekt mitgearbeitet und vergleicht in ihrer Funktion als Wissenschaftlerin die Literaturen von beiden Seiten der Karawanken.
In ihrem Roman benutzt sie historisches Material aus beiden Perspektiven, zum Erster-Weltkriegs-Jubiläum publiziert. Trotz aller EU-Freundschaft zwischen den Ländern ist viel unaufgearbeitet und unangesprochen geblieben, oder zumindest denen unbekannt, die sich nicht darnach auf die Suche machen. Wenngleich anlässlich der 100. Jährung des Krieges Brigitte Hamanns reich bebildertes Taschenbuch „Der Erste Weltkrieg. Wahrheit und Lüge in Bildern und Texten” schockierende Bilder aus dem Hinterland enthält und die Hetze nachzeichnet, mit der von Anfang an zu ungeahnten Grausamkeiten aufgestachelt wurde, sind Publikationen wie das „Veliki Rat – Der Große Krieg”, womit der kritische Promedia-Verlag die serbische Sicht auf die Ereignisse herausgab, weniger beachtet worden als das Ereignis museal-verklärend präsentiert. So werden im Roman der Wagen mit den Einschusslöchern und die blutige Kleidung des in Sarajewo dem Attentat zum Opfer gefallenen Thronfolgerpaars als groteske Devotionalien entlarvt, die Ausstellungsbesucher in „feierliche Stimmung" bringen sollen. Schon ein bisschen Wahrheit wäre mehr gewesen (S.146):
„Das Zimmer zu Sarajevo, das haben wir der schauerlichen Reinszenierung eines Todes gewidmet, zack-bumm, jetzt schau'n wir mal: Da steht das Automobil, in dem der Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin erschossen wurden, da hängt der blutige – ja blutige!, sonst wäre es nicht schauerlich genug – Waffenrock des Erzherzogs, da stellt sich auch die Chaiselongue vor einen hin, auf der er starb, unser Thronfolger."
Dass Doris ihren langweiligen Gatten, einen leitenden Bank-Angestellten, gern in eine historische Soldatenuniform stecken würde, um ein bisschen Kitzel in ihr Liebesleben zu bekommen, während Vida sozusagen das Prickeln der Geschichte im Namen trägt – vorn heißt sie „Leben" und mit Familiennamen „Nemec” – d.h. Deutsch auf Slawisch, die uniforme Verkehrssprache –, ist ein gut gemeinter Einfall der Autorin.
Vida steht für 100 Jahre Einsamkeit in der Zeitgeschichte, erlitten im lebendigen Bewusstsein, dass nicht ruhen kann, was noch auf Gerechtigkeit wartet. Zur Veranschaulichung würzt die Autorin mit ein bisschen viel Vampir-Aberglauben, auf den die Soldaten bei ihren vermeintlich an Kultur minderen Nachbarn stoßen. Doch nicht Rache ist Sache, sondern wach zu bleiben und aufmerksam zu halten Vidas Anliegen.
Über das Unrecht in der Geschichtsschreibung steht auf S.138:
„Es fehlen bei uns immer gewisse Worte, zum Beispiel jene der gegnerischen Zivilbevölkerung. Nicht erwähnt werden die hundertfünfzigtausend von Typhus und Hunger dahingerafften Menschen nach dem ersten Feldzug 1914 oder die Begleiterscheinungen des Rückzugs der gegnerischen Armee 1915 über Montenegro und Albanien, bei dem zweihundertvierzigtausend Menschen, die mit der Armee panisch mitgezogen waren, krepiert sind. Solche Nebenereignisse, militärisch irrelevant, noch dazu an einem Nebenkriegsschauplatz, interessieren uns nicht.”
In diesem Sinne denkt Museumsdirektorin Doris, die über weite Strecken v.a im zweiten Teil des Buches im rhetorischen Clinch mit Vida liegt; aber auch das Gros der Publikationen zum Ersten Weltkrieg bucht mit „Verlust” die Gefallenenzahlen und meint mit „Einsatz” Material inklusive Wehrkraft. Menschen, die auf der Strecke bleiben, kommen nicht zu Wort. Nicht einmal ihre Zahlen sind dort erhoben.
Im Roman wird zitiert, S.139:
„Die Mittelmächte mussten über 11.000 Dollar aufwenden, um einen gegnerischen Soldaten ins Jenseits zu befördern, die Entente hingegen mit über 36.000 Dollar mehr als dreimal so viel”.
Kein Wunder, dass das Gegenstück der Weltkriegs-Jubiläums-Ausstellung, in Belgrad, just die Bank, der Doris' Mann vorsitzt, zum Mäzen hat. Unschwer ist die von Kärnten in die südslawischen Nachbarländer operierende HypoAlpeAdria zur erkennen, die – realiter! – bald darauf in einem großen Finanzskandal platzen sollte. Daneben zollt die Autorin einem anderen gebürtigen Klagenfurter Referenz, Robert Musil, dessen scheiternde „Parallelaktion” zu den deutsch-österreichischen Kaiserjubiläen den Hintergrund für den Nihilismus seines Sinnkrise-Romans „Der Mann ohne Eigenschaften” bildet.
Der männliche Held von „Das lange Echo”, Milan Nemec, sammelt die Namen ungesühnter ziviler Kriegsopfer. Weil er einen der Verantwortlichen mit einer öffentlichen Ohrfeige zur Rede stellt, wird seine Akte 100 Jahre später Gegenstand des Streitgesprächs zwischen den beiden Historikerinnen im Jetztzeit-Erzählstrang. Milan geht bei Kriegsende nicht nach Wien zurück, sondern nimmt sich einer Frau an, deren Mann und Sohn umgekommen sind. Für die Hinrichtung des Sohnes, der Milan hieß wie er selbst, fühlt Nemec sich verantwortlich. Er heiratet die Witwe, obwohl sie seiner Seite niemals vergeben wird, die beiden bekommen eine Tochter, eine spätere Tito-Kommunistin, die im Zweiten Weltkrieg gegen ihre Brüder aus Milans erster Ehe, Wehrmachtssoldaten, als Partisanin kämpft. – Dergleichen findet im Roman Erwähnung, doch bleibt es bei der Idee, die kein Erzählfleisch ansetzen will.
Zwar bemüht sich Messner redlich, in flüssigen Satzreihen parataktische Ketten zu knüpfen, um einen epischen Strom wie Joseph Roth zu erzeugen. Doch der komponierte seine Prosa aus innerer Konzentration, da kommt keine gut gemeinte, zur Nutzung interessanten Materials umgesetzte, Idee dagegen an.
Die Listen, derer sich Messner bedient hat, hat im Buch die Figur des Milan zusammengetragen: über die Verbrechen der Armee und marodierender Soldaten. Sie werden von seiner Tochter, der Partisanin, an die Urenkelin Vida weitergegeben, unter Beihilfe des zur Sterbenden gerufenen Geistlichen, wenngleich niemand in dem Buch gläubig ist, zumindest nicht im Leben.
Vielleicht deswegen holt Vida das nach und wartet mit der Bekanntgabe nicht bis zum Schluss ihrer Gegenwart. Sie lässt, in Auseinandersetzung mit ihrer Vorgesetzten im Heeresgeschichtlichen Museum, schauderhaft aus dem Grab steigen, wer ungenannt hinter seinem/ihrem niedergebrannten Heimatdorf verscharrt wurde: In endlosen Totentänzen nennt sie die Vornamen von Menschen und ihre Lebensalter, gefolgt von den Erkenntnissen nach ihrer Exhumierung: Den meisten hatte man Nasen und Ohren abgeschnitten, Frauen nach ihrer Schändung auch die Brüste, Männern ihr Geschlecht, und die Teile zum ultimativen Hohn in die eigenen Körperöffnungen gesteckt. Die Aufzählung der Perversionen nach den gelisteten bäuerlichen Vornamen erinnert an die fotografierten KongolesInnen zu Beginn der Verfilmung von Adam Hochschilds „Schatten über dem Kongo”. Die unvorstellbaren Grausamkeiten, die die belgischen Kolonialtruppen den Eingeborenen angetan hatten, decken den Wahnsinn der Überseeausbeutung auf. Sie erscheinen wie ein moralisches Lehrstück über die in Rassentheorien bereitete Menschenverachtung. Dass Ähnliches auf unserem Kontinent von der Armee heimischer Urgroßväter verübt worden ist, ereilt eine/n als Schock; umso mehr, als es sich nicht um unbekannte Fremde, sondern um Nachbarn, ja BürgerInnen des eigenen Reichs gehandelt hat, denen man – waren sie Slawen wie die feindlichen Serben und Russen – Verrat zutraute, weshalb sie wie Verräter behandelt wurden, schon bevor man ihnen etwas nachweisen konnte. Juden, Polen und Ruthenen in Galizien und der Bukowina sowie den von Russland gewonnenen Gebieten wurden neben der serbischen, montenegrinischen und bosnischen Bevölkerung des eroberten Balkan unter Generalverdacht gestellt. Der Historiker Anton Holzer nennt als „von höchster Stelle angeordnete und geplante” Ausschreitungen
„Geiselnahmen und Geiselerschießungen, Zwangsdeportationen, Internierungen und Zwangsarbeit - und […] Massenhinrichtungen. Die gewaltsame Politik des Militärs wurde von weiteren, teils geduldeten, teils straflos gestellten Gewaltexzessen begleitet: Vergewaltigungen, Plünderungen, willkürliche Tötungen und Zerstörungen von Häusern.“
So wurden am 17. August 1914 Dorfbewohner des serbischen Šabac am Kirchenplatz zusammengetrieben, etwa 80 von ihnen auf Befehl erschossen und anschließend in einem Massengrab verscharrt, 120 weitere in einem über mehrere Tage gehenden Gewaltexzess interniert, gedemütigt, misshandelt, vergewaltigt und willkürlich ermordet, währenddessen das 32. k.und k.-Landwehrregiment plünderte und brandschatzte. Ein österreichischer Soldat, der dabei war, beschreibt die Anordnung, auf die das geschah, folgendermaßen:
„Wir erhielten den Befehl, und dieser wurde uns laut vorgelesen, alles zu töten und niederzubrennen, was uns im Laufe dieser Kampagne über den Weg läuft, und alles was serbisch ist, zu zerstören."
Sein Kamerad gab zu Protokoll:
„In Šabac töteten die österreichisch-ungarischen Truppen über sechzig Zivilisten vor der Kirche. Diese waren vorher darin gefangen gehalten worden. Sie wurden von acht ungarischen Soldaten mit dem Bajonett abgeschlachtet, um, so hieß es, Munition zu sparen.“
Bereits in den ersten Kriegsmonaten haben österreichisch-ungarische Militärgerichte zwischen 11.400 bis 36.000 Zivilisten zum Tod am Galgen verurteilt – wenn auch „nur” ein paar Tausende vollstrecken können – wofür zusätzliche Henker angeworben werden mussten. Die jeweilige Ortsbevölkerung hat man gezwungen, den Hinrichtungen beizuwohnen. Die ohne Prozess Verurteilten wurden auf dem Platz tagelang hängen gelassen, als warnende Exempel für die Überlebenden.
Die königlich-serbische Polizei beauftragte den neutralen Schweizer Polizei-Fotografen Rodolphe Archibald Reiss mit dem Dokumentieren der Taten. Einige Tage nach den Ereignissen befragte er die Überlebenden. Reiss könnte Elena Messners Vorbild für die Figur des Milan Nemec gewesen sein, denn auch er flieht mit den Serben, bleibt nach dem Krieg in Belgrad, baut die serbische Polizei neu auf und lässt sein Vorkriegsleben in Lausanne. Sein 192 Seiten langer Bericht über die Verbrechen an der Zivilbevölkerung enthält eine längere Analyse, wie es zu den Massakern kommen konnte. Dort schreibt der Polizeiprofessor:
„Beides, die Beweise und die Dokumente bestätigen zudem die Tatsache des Vorsatzes und einer langen Vorbereitung. ... Die österreichisch-ungarischen Soldaten, die sich auf serbischem Territorium plötzlich jenen Menschen gegenüber sahen, die ihnen stets als Barbaren geschildert worden waren, waren verängstigt und verschreckt. Aus Angst, selbst massakriert zu werden, verübten sie vermutlich ihre ersten Grausamkeiten.“
So heißt es etwa in einer „Direktion für das Verhalten gegenüber der Bevölkerung in Serbien“, die vom 9. k.u.k.-Corps Kommando herausgegeben wurde:
„Der Krieg führt uns in Feindesland, das von einer mit fanatischem Hass gegen uns erfüllten Bevölkerung bewohnt wird, in ein Land, wo der Meuchelmord, wie auch die Katastrophe von Sarajewo zeigt, selbst den höher stehenden Klassen als erlaubt gilt, wo er gerade als Heldentum gefeiert wird. Einer solchen Bevölkerung gegenüber ist jede Humanität und Weichheit höchst unangebracht, ja geradezu verderblich, weil diese, sonst im Krieg ab und zu möglichen, Rücksichten die Sicherheit der eigenen Truppen schwer gefährden würde.“
Elena Messner wäre keine Literaturkundlerin, würde sie nicht eben jenen heldenverherrlichenden Patriotismus der Dichter unter die Lupe nehmen. Hofmannsthal, Rilke, Musil und Roda Roda werden bei ihr auf denkbar groteske Weise vorgeführt und kommen schlecht dafür weg, dass sie, um nicht an die Front zu müssen, heroische Texte geliefert haben, für die sie sich nach dem Krieg nicht rühmten. Die Autorin übersieht dabei Alexander Lernet-Holenia, der in beiden Weltkriegen kämpfte und lebenslang der österreichisch-ungarischen Militärgeschichte mehr nostalgisch als kritisch gegenüberstand. Für österreichische Leser ist sein ritterlich-fahnentreuer (Liebes-)Abenteuer-Roman „Die Standarte”, der ebenfalls im besetzten Belgrad spielt, wo das Regiment von einer Meuterei gesprengt wird, der Gegenpol zu „Im Westen nichts Neues”, der bekannte realistische Desillusionierungsroman aus dem Schützengraben.
So altmodisch war man halt damals – verschwiegen und gleichzeitig gewiss darauf zählend, dass Lesende auch zwischen den Zeilen lesen.
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