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Kritik

Erinnern heißt erzählen

Emannuelle Pagano untersucht in ihrem Roman „Die Haarschublade“ die Narben der Seele
Hamburg

Sie haben eine besondere Begabung, die französischen Schriftstellerinnen, eine Begabung für einfach und klar geschriebene Romane, die sich auf unbekannten Wegen von der einen zur anderen vererbt – vielleicht ist es das Leben im Süden, am Meer oder zwischen mit Wein und Esskastanien bewachsenen Hügeln, in einer rauhen, kargen, sonnendurchglühten Landschaft, in der seit zweitausend Jahren die Formen des Zusammenlebens und also der Kunst erkundet werden; vielleicht ist es das Leben in einer dieser kleinen alten Städte mit einer gotischen Kathedrale auf dem Marktplatz, einem Stück mittelalterlicher Stadtmauer und einem von der sommerlichen Hitze fast ausgetrockneten Fluss, das diese klassisch-minimalistische Architektur des Erzählens geschaffen hat, die die Konflikte so schroff gegeneinandersetzt wie die Treppenstufen in den steil ansteigenden Gassen und den Figuren scharfe Konturen verleiht – die dann, für einen kurzen Moment, plötzlich eine Weichheit zeigen, um den Mund, um die Augen, in einer Geste, die rührend überrascht.

Emmanuelle Pagano ist eine dieser Schriftstellerinnen, die inmitten der kargen, strengen Schönheit des midi aufgewachsen sind. 1969 wurde sie im Département Aveyron, in Rodez geboren, und lebt heute, nach dem Studium der Filmwissenschaft an der Universität von Montpellier, mit Mann und drei Kindern in der Ardèche. Das erste Kind, das sie bereits 1991, mit 22 Jahren, bekam, war nicht geplant – sie versuchte dennoch weiterzustudieren, aber das neue Leben veränderte ihre Sicht auf die Dinge, die Welt, sie merkte, dass sie weniger am wissenschaftlichen Schreiben übers Kino als am Schreiben selbst interessiert war. So gab sie die begonnene Dissertation übers „Kino der Vernarbungen“ auf und setzte sich an ihren ersten Roman.

Inzwischen sind es fünf, von denen die drei letzten in dem unabhängigen Pariser Verlag P.O.L, der sich mit einem anspruchsvollen zeitgenössischen Programm einen Namen gemacht hat, herausgekommen sind. In gewissem Sinne ist Emmanuelle Pagano in ihren Romanen dem Thema der abgebrochenen Dissertation treu geblieben, sind es doch immer wieder Vernarbungen, von denen sie erzählt, diesen Körperzeichen von geschlossenen und verheilten Wunden, die nicht aufhören zu schmerzen, die den Schmerz sichtbar und wach halten und die Erinnerung wecken, wenn die Kleidung an ihnen reibt, die Hand sie betastet, der Blick auf sie fällt. Erinnern aber heißt erzählen.

In Emmanuelle Paganos bei Wagenbach auf Deutsch erschienenem Roman mit dem ungewöhnlichen Titel „Die Haarschublade“ (Le tiroir à cheveux) ist es eine Frau von Anfang zwanzig, die sich erinnert und von sich erzählt. Sie lebt mit ihren beiden Kindern, Pierre und Titouan, in einem Dorf, in das im Sommer die Touristen einfallen, in einer kleinen Wohnung im Zigeunerviertel, wo am Abend alle Fenster offen stehen, so dass man die Kinder der Nachbarn hört wie die eigenen.

Wie das eigene, müsste es heißen, denn neben Titouan, dem Sonnenschein, ist da noch Pierre, der Ältere – und der ist wie „ein Toter“, „aber ein Toter, der nicht tot ist“. Weil die viel zu junge werdende Mutter die Schwangerschaft verschwiegen hat, aus Scham vor den Freunden und dem Vater des Kindes, aus mit Angst gemischtem Trotz gegen die Eltern, die, der Vater ist Polizist, ein enges, spießiges Leben in der Gendarmerie führen, kommt sie zu spät ins Krankenhaus, muss dann, als während der Entbindung die Herztöne des Kindes nachlassen, erst noch auf die Einwilligung der Eltern für den Kaiserschnitt warten – und so vergeht Zeit, zu viel Zeit für das Kind, das zwar gerettet werden kann, aber mit schweren Gehirnschäden auf die Welt kommt.

Die minderjährige Mutter flieht vor der Verantwortung, überlässt das Kind, das sie nicht annehmen kann – „Er reagierte nicht, und ich auch nicht.“ – den Eltern. Sie bricht Schule und Ausbildung ab, zieht mit fragwürdigen Freunden umher und kommt nur nach Hause, wenn sie Geld braucht. Die Wünsche und Hoffnungen, die sie ans Leben hatte, scheinen vergessen, verschwunden wie die Haarsträhne, die sie als Fetisch in der Hosentasche trug und abends, bevor sie schlafen ging, in die Schublade des Nachttischs legte.

Es war ihr eigenes Haar, man hatte ihr einen kleinen Zopf aus den abgeschnittenen Strähnen geflochten, die sie dem Kleinbürgerwillen der Mutter hatte opfern müssen, damals, als sie noch ein Kind war. Sie liebt Haare, ihre Farbtöne, ihren Glanz, ihr Sich-Kräuseln im Nacken und an den Schläfen, ihr Wehen im Wind, sie befühlt sie gern. Bevor sie aus ihrem Leben davonlief, wollte sie Friseuse werden. Doch der Traum ist vorbei. Sie treibt sich herum, verbringt die Tage mit Nichtstun, erfüllt von einem diffusen Rachewunsch.

Statt der pechschwarzen Haarsträhne mit dem blassblauen Band betastet sie jetzt die Narben auf ihrem Bauch. Sie erinnern sie, auch wenn sie vor ihm flieht, an ihren Sohn Pierre, für den sie sich schämt und an dem das einzig Schöne die langen blonden Haare sind. Dann wird sie erneut schwanger. Sie gibt das Herumziehen auf, kehrt ins Haus ihrer Eltern zurück – und nimmt, als sie das zweite Kind in ihrem Bauch spürt, endlich Kontakt zu ihrem behinderten Sohn auf. „Allmählich gewöhnte ich mich an ihn. Ich nahm ihn mit in die Badewanne (...). Legte meine Füße auf den Wannenrand und klemmte seinen Körper zwischen meine Oberschenkel und meinen dicken Bauch.“

Es ist diese aufkeimende Liebe zu Pierre, die sie die Kraft finden lässt, ihr Leben wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Als auch der zweite Sohn auf der Welt ist, sucht sie eine Wohnung, arbeitet aushilfsweise im Friseursalon des Dorfs, gibt den Kindern zu essen, spielt mit ihnen, badet sie. Sie fühlt Freude, die aus der übernommenen Verantwortung kommt, und Überforderung: „ich sehe Pierre und weiß nicht mehr, wie ich mich um ihn kümmern soll“. Sie hat wenig Kontakt; von den Kindern und ihrer Mutter, die sich weiterhin um Pierre kümmert, abgesehen, sieht und spricht sie nur mit den Kundinnen im Friseursalon, ihren neugierigen Fragen aber weicht sie aus. Sie hat keine Freunde, und niemand besucht sie. Abends, wenn sie die Kinder ins Bett gebracht hat, hört sie leise Radio, bis sie einschläft. Sie ist stolz darauf, allein zurechtzukommen, vielleicht auch noch immer nur trotzig.

Aber ist sie allein? Es gibt eine Figur in diesem Buch, die ihr mit dem Blick folgt, mit „Augen, die nicht zu urteilen scheinen, Augen wie die von Pierre, groß, hell und unruhig, aber anstatt voll mit Leere zu sein, sind sie voll mit lauter Dingen“. Dieser Blick gehört der ehemaligen Nachbarstochter in der Gendarmerie, die, als ihre Form des Protests gegen das enge Elternhaus, das Lesen gewählt hat; immerzu ist sie über ein Buch gebeugt, versenkt sie sich in das Leben anderer – das der Figuren in den Büchern und das dieser jungen Mutter, die sie bewundert.

Und zwar so sehr, dass sie sich ihr anverwandelt und ihr ihre Sprache leiht, wie sie umgekehrt, durch teilnehmend-distanzierte Beobachtung, ihre Sprache zu der ihren macht – denn sie ist nicht nur Leserin vieler Bücher, sondern, wie sie am Ende des Buchs zu erkennen gibt, die eigentliche Erzählerin dieser Geschichte. „Ich habe diese Geschichte ohne jede Erlaubnis geschrieben, nicht mal mit seiner, nicht mal der seiner Mutter“, heißt es im Epilog.

Was aber bedeutet es, dass sich da jemand den Anschein gibt, ein anderer zu sein, in seine (Sprach-)Haut zu schlüpfen, schreibend sein Leben anzuprobieren, weil er ihn bewundert, mutig findet, gern dieser Mensch wäre – und dass er doch sein Eigenes, seine Sprache, seinen Blick, dafür nicht aufgeben will? Im Grunde erzählt das Buch von zwei Emanzipations- und Autonomisierungsprozessen: von dem der jungen Mutter, die sich zum Anderssein ihres Kindes bekennt, und von dem der Nachbarin, die durchs Beobachten und Erzählen ihre Individualität schärft.

Dass Emmanuelle Pagano zwei sehr verschiedene Sprachen miteinander verbindet – die kurze, schroffe Diktion der jungen Mutter mit der Wortwahl und den Beobachtungen der Nachbarin –, bedeutet aber nichts anderes, als dass sie das Verhältnis zwischen Erzählendem und Erzähltem, Autor und Fiktion untersucht und also davon erzählt, was Literatur ist – der Versuch, sich selbst von außen zu sehen und die anderen von innen, nicht nur ihre Körpernarben zu ertasten, sondern auch zu ihren seelischen Vernarbungen Kontakt aufzunehmen und ihnen eine Stimme zu geben.

Emmanuelle Pagano
Die Haarschublade
Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger.
Wagenbach
2009 · 144 Seiten · 16,90 Euro
ISBN:
978-3-8031-3224-6

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