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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Ein Buch, das nie langweilig werden wird

Hamburg

Ich weiß schon jetzt, dass mir die Rezension über "Nach Acedia" Spaß machen wird. Der Wind weht und das Licht scheint durch luftige Zeilenpaare, die, wenn ich locker durch die Seiten blättere, sich wie Bilder eines Films präsentieren, der in einer Stadt am Meer spielt und Schwermütiges leicht erzählt... oder Leichtes schwermütig?

Die eine Hand an der Stange stieg sie ein
die Frau, die über ihr Schulterpolster streicht
das umgedrehte Schildchen ihrer Bluse

Gern bleib ich bei der / dieser Stange und so groß der Abstand zwischen Autor und Beschriebenem an dieser Stelle auch sein mag, umso mehr möchte ich mit den Figuren reisen / bleibe ich am Schildchen hängen (wodurch hat es sich verdreht? Was steht darauf (für ein Name)?) Die Schulterpolster weisen darauf hin, dass die Frau eine höhere Position innehat, bei der es wichtig ist, die Form zu bewahren. Oder einfach nur einen Beruf mit Uniform, z.B. Schaffnerin? Aber gibt es das denn noch? Gibt es heutzutage nicht nur Zugführerinnen und Fahrkartenkontrolleurinnen und dazwischen lange Zeit nichts? Und eigentlich sind die Zugführerinnen längst von Computern ersetzt worden und die Kontrolleurinnen längst von Überwachsungskameras. Also gibt es, umgekehrt wie vermutet, nur Schaffnerinnen, die hier etwas schaffen und deswegen auch geschafft sein dürfen. Das Wort / Die Bezeichnung "Zugbegleiterin" ist ein Euphemismus. Deshalb auch ihr totaler Zusammenbruch...

Und wo kommt das Zimmer her?

im Zimmer knickt ihr klackender Absatz um
aber sie fällt nicht

Kameraschnitt / Zeitsprung - der Autor arbeitet mit Mitteln des Films und einem rigoros nüchternen, präzisen Wortschatz, der aber zuweilen keinen Standort über mehr als zwei Zeilen zulässt.

ein Arm reißt ihren Körper herum
und in der Drehung packt ihn ihr eigener Arm

Welches ist nun ihr Arm, welches eventuell der Arm eines anderen? Selbst die Figuren unterliegen dem / einem Zersetzungsprozess, der einen Wunsch nach Synthese auslöst.

den Ball der gegen die Schienen geprallt war
hält das Mädchen in den Händen und guckt

weiße Bergwerke Ziegeleien eine Bergwand
mit der Sonne über dem Tal und genug

Nacht auf des Baches Grund
vor der aufsteigenden Dämmerung

Stimmt das? An der Echtheit der Dinge und Geschehnisse in den Gedichten von Erik Lindner besteht kein Zweifel, eher an der Stimmung, die wie ein Vexierbild ihr Gesicht ändert, allein durch das Auftauchen eines unerwarteten Wortes.

eine Frau, die eine Hand auf ihrem Schulterpolster
aus dem Tunnel schallt der Hufschlag des Zuges.

Ist die Frau ausgestiegen? Sie hält sich an sich selbst fest, ist wie der Leser in diesem Moment zu einem fragilen Wesen geworden, das nicht weiß, wo es langgeht. Wer entscheidet das denn? Der Zug, der ein Tier geworden ist? Die Leute in Acedia? Laufen in Acedia alle Fäden zusammen, weil dort a) die Filmindustrie sitzt oder b) die Regierung, c) die Wirtschaftsbosse oder d) Adam und Eva? Gibt es Acedia? Führen alle Wege dorthin? Auch der Bus von der Ersatzhaltestelle?

Ist dies eine Stadt? Häuser und Trams
kommen einander nicht in die Quere.
[...]
Sieh nur wie vom Fleisch
das Blut tropft.

Zwischen diesen beiden Polen - dem Hinterfragen von Wörtern und ihrer Bedeutung einerseits und der konkreten Beschreibung dessen, aus dem Leben besteht, andererseits - bewegen sich die Texte von Erik Lindner.

Dabei entdecke ich mindestens vier verschiedene Arten: Einmal die sehr sachlich geschriebenen Gedichte, die mit Wiederholungen und Lakonie arbeiten, oder mit Aufzählungen und Doppelbedeutungen. Dann gibt es längere, mit drei oder vier Kapiteln, wie kurze Geschichten. Und es gibt Texte, die direkt zu einem Bild, einer Ausstellung, einem Film, einem Ort, einer Fragestellung geschrieben wurden und mit längeren Sätzen länger bei einer Sache verweilen, wobei nicht weniger vielschichtig, ganz im Gegenteil, auch da klappt mir zuweilen das eben erschaffene Bild vor Augen weg und ich erblicke einen Abgrund oder die Mauer hinter einem Plakat.

Das schöne ist, dass man "Nach Acedia" auch wie eine einzige lange Geschichte lesen kann, denn "eine Frau" ist immer "eine Frau", ob es nun die eine, die andere, dieselbe, die fremde oder die vertraute ist. Die verschiedenen Lesarten machen diese Texte zu schillerndem Strandgut - abstoßend und anziehend zugleich -, dass immer wieder aufs Neue erschlossen werden kann.

Gern zitiere ich zum Schluss nochmal den Autor selbst mit einem Ausschnitt aus titelgebendem Gedicht:

(...)
Er fragt: war ihre Hand hier?
Er setzt sich auf den abgestellten Koffer.

Eine Hand brennt auf ihrem Unterleib
und eine Hand brennt über dem
sich drehenden Autoreifen in der Sonne
(...)

Der Band enthält 53 Gedichte übersetzt von Rosemarie Still mit einem Nachwort von Ulf Stolterfoht. Für mich schon jetzt ein Buch, was nie langweilig werden wird.

 

Erik Lindner
Nach Acedia
Aus dem Niederländischen von Rosemarie Still. Mit einem Nachwort von Ulf Stolterfoht.
Matthes & Seitz
2013 · 170 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-88221-076-6

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