Felix Philipp Ingold Ausgespielt. Ein Hundert Quartette.
Gelb als Kontrast zum Asphaltgrau des Schutzumschlags, der CD-Hülle und des Booklet-Einbands, gelb der Hintergrund der Klappentextseiten, gelb auch die Banderole, die Gedichtband, CD und Booklet zusammenhält. Überall dieses Gelb. Gelb scheint für Felix Ingold eine wichtige Farbe zu sein. Auch im Text, in den Gedichten spielt sie immer wieder eine Rolle. Der Autor erzeugt sogar aus künstlichen Farben, nämlich aus Himmelgrün und Himbeerblau, dieses
Gelb das nur die Quitte und die Lüge kennt.
Ingold setzt sich auch immer wieder mit der Problematik auseinander, dass Sprache bzw. Worte doch nicht die Wirklichkeit sind. Ein Beispiel hierfür in gelb:
Echten Farben und Gewichten entspricht kein Wort.
Kein Wort begreift die Gelbigkeit des Ginsterfelds.
Die 'Selbigkeit' des einen Gelbs im andern und
das zitronengrüne Rauschen nah dem Schmelz
Das erinnert stark an Alfred Graf Korzybski (1879-1950). Das ist der Begründer der „Allgemeinen Semantik“. Sein Hauptausspruch lautet: „Die Landkarte ist nicht das Gelände“ (the map is not the territory). Der Mensch lebt in zwei Welten: der Welt der Sprache & der Symbole und in der realen Welt. Die Sprache ist die Landkarte der Wirklichkeit. Man sollte also Wörter nie mit der Wirklichkeit gleichsetzen oder verwechseln. Das scheint uns Ingold mit den obigen Zeilen sagen zu wollen. Aber dann behauptet er wiederum das Gegenteil:
Ob Zucker- oder Salzkorn - auf der Zunge schmeckt's
wie das Wort für 'Zucker!' oder 'Salz!'.
Ansonsten ist dieses Konglomerat von einhundert Quartetten schon ein großes Durcheinander. Ganz unterschiedliche Themen werden kurz aufgegriffen, wieder verlassen, um eventuell später wieder in den Fokus zu rücken. Der Apfel kommt zum Beispiel immer wieder vor, und zwar in Zusammenhang mit Frucht / Fruchtbarkeit bzw. Eva und dem Sündenfall. Andere durchaus komplexere bzw. philosophische Begriffe tauchen dagegen teils unvermittelt nur einmal auf, etwa „Buchstabensturm“ oder „Dekonstruktion“. Man kann in diesem Sammelsurium durchaus eine Stimmung erfahren, auch so etwas wie einen Sinn. Doch mit dem Sinn scheint Ingold selbst zu hadern. Denn relativ am Anfang schreibt er:
Bis zur reinsten Stirn steigt unverwandt der Sinn
und steigt. Und steht als Sorge wie ein schwarzer Stern.
Denn 'als' und 'wie' sind kein Vergleich für 'bin'.
Doch im 80. Quartett steht dann:
Der Sinn ist (hört man noch genauer auf ihn hin)
der Maniak des Reims. Ist das was nach dem Ein-
klang ins Bewusstsein kommt. Ein Nebengewinn.
Also naturgemäss zum Investieren viel zu klein.
Es gibt also einen Sinn in seinen Gedichten bzw. in Gedichten ganz allgemein, doch scheint dieser immer relativ gering zu sein.
Ein Anliegen, dass sich durch den gesamten Band hindurch zieht: Die Wichtigkeit oder Einzigartigkeit vom Sehen und Hören, also Farben und Geräuschen bis hin zur Musik. Und das Ganze verbunden durch mechanische Bewegungen, zum Beispiel die des Holzes von Musikinstrumenten, die dann erst einen Klang erzeugen. Damit wird in diesen Gedichten auch die Verwobenheit von allem mit allem zum Ausdruck gebracht.
Auch mit der Mathematik „spielt“ der Autor, nimmt sie vielleicht auch gar nicht ernst. Wenn er zum Beispiel schreibt:
doch auf den Kopf gestellt ist vieles wie
im Dreh und 'zweimal zwei gleich vier'
ist nicht mehr wahr und galt noch nie.
Oder:
Eins und Eins im gewöhnlichen Leben ist gleich Pi.
Imaginäre Zahl (weit unter Null) [...]
Ingold verwendet relativ häufig doppelte Verneinungen, am häufigsten das „nie nicht“. Ein Stilmittel, das das Lesen aber nicht unbedingt leichter macht, da man (oder zumindest ich?) immer erst im Kopf diese doppelte Verneinung auflösen muss. Also gedanklich aus dem „nie nicht“ ein „immer“ zu machen.
Die Quartette reimen sich durchgehend, und zwar in einem Kreuzreim, dem abab-Schema. Interessant dabei, dass Wörter zwischen Zeilen getrennt werden in der Form, dass das Reimschema dabei eingehalten wird. Oftmals gehen auch Sätze, die inhaltlich eine Einheit bilden, vom einen ins nächste Quartett über. Mir hat es sehr geholfen, die Gedichte vom Autor gelesen zu hören (auf der begleitenden CD), das ist eine ganz eigene Art. Dabei stehen die Reime (in ihrer Betonung) gar nicht mehr im Vordergrund. Sie erzeugen viel eher einen gewissen Grund-Rhythmus, der den einhundert Gedichten unterliegt, mehr nicht.
Die Bilder im begleitenden Booklet, meistens Fotos, aber stellenweise auch Gemälde, sind ebenfalls relativ Tohuwabohu, wobei Natur ein großes Thema ist. Sie wird allerdings in diesen aufs Detail fokussierten Fotos immer durch kleine kulturelle, das heißt von Menschen gemachte, Gegenstände verfremdet bzw. gebrochen. Die Untertitel zu den Bildern sind meist relativ originell gewählt, zum Beispiel „Der Haarstil“ für einen alten, zerzausten Handfeger.
Gegen Ende der einhundert Quartette werden sich die Gedichte ihres bzw. des ganz allgemein nahenden Endes bewußt. Ab dem 94. Quartett geht es um „die Zukunft dieser Welt“, schon eine gewisse Weltuntergangsstimmung, die man dabei spüren kann. Und, so denke ich, ist es eher die teils mäandernde Stimmung dieses langen Gedichts (bzw. dieses kurzen Gedichtbandes), die zählt und die es lesenswert macht, nicht so sehr der Sinn, der aber trotzdem, teils verborgen, hinter den Worten steckt.
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