Ohne nennenswerte Aussichten
Am Tag meiner Geburt hat mein Vater mich auf den Boden geworfen. Er wollte einen Sohn. Danach hat er die türkische Botschaft in Genf aufgesucht und mit lauter Stimme verkündet, ein Kind sei auf die Welt gekommen, leider weiblichen Geschlechts, und werde ... einen schönen Namen tragen: France.
Wer war France, jenes Mädchen, das ins Leben fiel und gleich zu Beginn hart auf dem Boden landete, jene France Léa Gourdji, die am 21. September 1916 in Lausanne geboren wurde und demnächst ihren 100. Geburtstag feiern würde?
Als sie 1937 beim Rundfunk begann, bekam sie jenes anagrammartige Pseudonym, seit 1964 auch ihr amtlicher Name, unter dem sie zu einer der bekanntesten und prägendsten Frauen Frankreichs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde: Françoise Giroud. Sie schrieb rund dreißig Bücher, war Journalistin, Chefredakteurin von Elle, gründete 1953 gemeinsam mit Jean-Jacques Servan-Schreiber das Nachrichtenmagazin L’Express, wurde später Frauenstaatssekretärin unter Valéry Giscard d’Estaing und 1976 Kulturministerin in der Regierung von Jacques Chirac. Eine kluge und schöne Frau, zweifache Mutter und Feministin, Rebellin und Politikerin, die sich ihren Weg nach oben als Tochter osmanischer Juden und Migranten hart erkämpfte. 2003 starb sie hochbetagt.
Das vorliegende Buch ist ein so nüchterner wie klarsichtiger Zwischenbericht, eine schonungslose Autobiographie, die nicht im fortgeschrittenen Alter geschrieben wurde und nicht ein ganzes Dasein erzählt, sondern von der Autorin mit 44 Jahren verfasst wurde, in der Mitte ihres Lebens, die auch unwiderrufliches Ende hätte sein können. Nachdem Giroud von ihrem Lebenspartner Servan-Schreiber verlassen worden war und mit ihm auch ihre redaktionelle Arbeit im Express verloren hatte, verübte sie einen Suizidversuch, den sie nur knapp überlebte. Zur Erholung reiste sie in den Süden und schrieb innerhalb weniger Wochen diesen rasanten, atemlosen, lebensklugen Text, den sie selbst im letzten Satz als „Reportage aus dem Leben einer freien Frau“ bezeichnet, und mit dem sich der Kreis zum erstaunlichen Anfang dieses Buchs schließt:
Ich bin eine freie Frau. Eine glückliche Frau war ich auch, vermag es also zu sein – was gibt es Selteneres auf der Welt?
Frei und glücklich? Zur Erinnerung: Giroud schreibt ihr Buch 1960, in einer Zeit, in der es um die Freiheiten von Frauen in fast allen Bereichen schlecht bestellt war und Ansprüche wie das Recht auf Glück angesichts realpolitischer und gesellschaftlicher Gegebenheiten auf Unverständnis stoßen mussten. Und so relativiert die Autorin ihr Fazit gleich wieder, wenn sie schreibt: „Für die Freiheit eignete ich mich ganz gut, für das Glück war ich weniger begabt.“ Eine Frage von Schuld? Als ob allein Begabung der Schlüssel sei, es gleichsam die Schuld einer geringeren oder fehlenden Begabung gebe, angestrebtes und ersehntes Glück nicht zu erreichen, und es nicht vielmehr die Wechselfälle des Schicksals sind, die dem persönlichen Glück in die Quere kommen, es erschweren oder gar verunmöglichen.
Über ihre Freiheiten als Frau macht sie sich keine Illusionen. Schon früh erkennt sie, dass diese einer nicht zufallen, sondern stets und immer wieder aufs Neue hart zu erarbeiten sind und wirtschaftliche Unabhängigkeit hierfür Voraussetzung ist. „Man ist stets für sich selbst verantwortlich“, resümiert sie und man könnte diesen Satz als Plattitüde abtun, doch in einer Zeit, da für Frauen die Ehe selbstverständliche „Berufung“ und nicht die Gleichstellung mit dem Mann, sondern die Unterstellung für Frauen der Normalzustand war, ist er keineswegs platt, sondern Ausdruck ihrer Klarsicht und Intelligenz. Wenn sie an anderer Stelle als Frage notiert, „Diese wirtschaftliche Freiheit, ... ist das nicht schon Freiheit an sich?“, so ist es für sie überhaupt keine Frage, dass Unabhängigkeit den stärksten Einfluss auf die Beziehung zwischen Mann und Frau ausübt, diese verändert und auch, dass Schwäche darin nicht vorgesehen ist. „Frei zu sein, bedeutet auch, auf andere pfeifen zu können“, schreibt sie. Es sind Einsichten, die ihr nicht aus dem Nichts zufliegen, sondern ihren Erfahrungen des Mangels entspringen: Nur ein Mädchen, ein Makel von Anfang an, arm und nicht hübsch genug zu sein und nur unzureichend gebildet. Die Tatsache, kein Abitur zu haben und kein Studium absolviert zu haben, begleitet sie bis ins hohe Alter und auch als sie Kulturministerin wird, ist sie sich dieses Mangels bewusst und bezeichnet sich ironisch als „Doktorin des gelebten Lebens“.
Giroud schreibt in diesem Buch, das viel mehr als eine bloße Reportage ist und mit der persönlichen feministischen auch die Zeitgeschichte für uns erfahrbar macht, so offen wie schonungslos über ihre Kindheit und Jugend, den frühen Tod ihre Vaters, über ihre geliebte, doch für ein normales Leben nur unzureichend befähigte Mutter, die ältere Schwester.
Zukunft ist kein geläufiges Konzept für all jene, die sich jeden Tag aufs Neue mit der Gegenwart herumschlagen, um sich über Wasser zu halten. Ich war schlicht nicht in der Lage, über das Monatsende hinaus zu planen.
schreibt sie und auch, dass Armut nie spaßig sei, notiert eine, die darum wusste. Mit vierzehn Jahren beginnt Giroud zu arbeiten, um ihre Mutter zu unterstützen, mehr noch, dieser den fehlenden Mann zu ersetzen, der das Geld verlässlich nach Hause bringt, und nun selbst für ein regelmäßiges Einkommen zu sorgen. Zunächst verdingt sie sich bei einem Buchhändler, bald darauf wird sie Skriptgirl in der Filmbranche, schreibt Drehbücher, ist ab den 40-er-Jahren Journalistin. 1946 gründen Pierre und Hélène Lazareff die Zeitschrift Elle und Françoise Giroud ist beinahe von Beginn an dabei. Sie schildert die zunächst prekären Bedingungen auf kleinstem Redaktionsraum, sich mit Hélène einen einzigen Sessel teilend, beschreibt ihren mehr zufälligen als gewollten Aufstieg in die Führungsposition. Bald kommen Zweifel an ihrer Arbeit in einer Frauenzeitschrift, auch wenn sie betont, keine Zugeständnisse gemacht zu haben. Doch was kann geschrieben werden, ohne KundInnen und die Werbewirtschaft zu verprellen und somit Einnahmen zu verlieren?
Was bringt es, für fünftausend Leser das Richtige zu denken und das Richtige zu schreiben? Für Leser, die ohnehin schon bekehrt sind? Diese Frage ist berechtigt, aber was bringt es, für zwei Millionen Leser nichts zu denken und nichts zu schreiben?
Giroud publiziert auch in anderen Zeitungen und Zeitschriften. 1951 lernt sie Jean-Jacques Servan-Schreiber kennen, geht eine innige private und berufliche Beziehung mit ihm ein. 1953 gründeten sie das Wochenmagazin L’Express, das sie gemeinsam bis zum Bruch 1960 leiten. Vor allem anfangs hat sie viele Artikel nicht mit ihrem Namen gezeichnet, um jeder Voreingenommenheit zuvorzukommen. Sie weiß um die unterschiedliche Rezeption, um die Schwächung eines Artikels, noch bevor er gelesen wird, durch das Aufscheinen eines weiblichen Vornamens:
Wenn ein Journalist männlichen Geschlechts es wagt, sich sowohl zur Abstrakten Malerei zu äußern als auch über die Kriege in Korea, Indochina, Algerien oder den nächsten Krisenherd, sorgt das schon für Unbehagen. Und wenn dann eine Frau kommt ...
Sie versteht sich als Vermittlerin, bemüht sich um eine verständliche Sprache, investiert ein Maximum an Arbeit und Zeit in das gemeinsame Projekt und so viel Geduld und Kraft wie nur möglich.
Und der Mann, den ich abends, an Sonntagen wiederfand, liebte mich genug, um meine Flügel zu streicheln, anstatt sie zu stutzen; er fühlte sich stark genug, um mich an die Spitze zu setzen, ohne zu befürchten, dass ich ihn jemals überragen würde.
Das jähe Ende trifft sie zutiefst. Servan-Schreiber verlässt sie abrupt, um mit einer anderen Frau eine Familie zu gründen. Auch hier weicht Giroud in ihren Erforschungen nicht aus, versucht, obwohl einsam und verletzt, sich Klarheit über ihn, die gescheiterte Beziehung und sich selbst zu schaffen, „mit diesem inneren Zittern, ... meine persönliche Entsprechung jener Geste, mit der Kinder sich vor Schlägen schützen“. Wieder weist sie sich Schuld zu. Doch sie erkennt auch: „Wenn es um Menschen geht, gibt es keine objektive Wahrheit.“ Und schließlich die finale Tat, der Suizid, in aller Freiheit von ihr gewollt und knapp misslungen. Eine lange Rekonvaleszenz ist die Folge, Zeit, in der sie Fürsorglichkeit kennen und annehmen lernt, Zeit auch, in der sie diesen Text verfasst und zur Einsicht kommt:
Ich hatte nicht mehr pausenlos das Gefühl, schuldig zu sein, nur weil ich existierte, und die anderen zu stören.
Giroud hat diesen brillanten Text noch 1960 fertiggestellt, ihn jedoch zu Lebzeiten nicht veröffentlicht, weil sie meinte, „dass man nicht alles veröffentlichen müsse, was man schreibt“. Der Beharrlichkeit von Alix de Saint-André, einer Freundin, die auch das Vorwort zu diesem Buch schrieb, und von Girouds Tochter Caroline Eliacheff ist es zu verdanken, dass diese verschollen geglaubte Biographie im Nachlass entdeckt und 2013 erstmals in Frankreich publiziert werden konnte. Jetzt liegt diese endlich auch in der feinen Übersetzung von Patricia Klobusiczky auf Deutsch vor. Ein lesenswertes Buch über eine bemerkenswerte Frau!
Fixpoetry 2016
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