Freiheit & Unabhängigkeit, Haut & Notunterkünfte
Den Anfang macht eine Hommage von Sandra Gugić an den großen H. C. Artmann und seinen Einleitungstext „Meine heimat ist österreich“ in seinem Buch „das suchen nach dem gestrigen tag“. Gugić variiert dazu eine „Versuchsanordnung“, ein engmaschiges Aufzählen von Taten, Orten, Zitaten. Der Text springt zwischen Poetischem und Faktischem, Hektischem und Innehalten, hin und her. So gelingt eine gute Balance zwischen anarchischem Auflehnen und streifendem Rekapitulieren, was am Ende zum gleichen Eindruck führt: Heimat ist eine lose Klammer, die einiges hält, aber, wo sie mehr als das halten soll, entstellt.
Neue Ischlericks von Antonio Fian. Darunter muss man sich Limericks vorstellen, nur dass sie halt am Hof von Kaiser Franz spielen, der sich munter durch die Dienstbotinnenschaft vögelt, während Sisi ihm einen Hirsch schießen soll. Lustig ist das schon, derbe, knallig, aber teilweise auch irgendwie langweilig.
Etwas ratlos lässt mich der Text von Daniela Chana zurück. Da betritt jemand ein Löwengehege und nennt einen der fünf Löwen Kompliment – verliert auf einer Party einen Zahn, in dessen größere Version der Löwe dann tritt. Geht dann auf ein Date und der Löwe ist, im Anschluss, weg. Der ganze Text baut eine schöne Kurve auf, aber ich frage mich: inwiefern ist die Protagonistin das Gegenteil jener Maus, die dem Löwen den Dorn aus der Pfote zieht? Wieso taucht ihr Zahn unter seiner Pfote auf, woran forscht ihre Forschungsgruppe – es bleiben viele Fragen offen.
Mit zunehmender Begeisterung habe ich den Text „die birke“ von Konrad Prissnitz gelesen. Am Anfang sind da nur eine Hollywoodschaukel und ein alter Herr, der plötzlich neben dem Protagonisten sitzt und unversehens mit ihm ins Gespräch kommen will. Die anschließend sich entwickelnde Farce ist nicht nur fidel und teilweise urkomisch, sondern hat gerade gegen Ende hin einfach einen guten Spin, entfaltet eine wunderbar grassierende Dynamik. Eine sympathisch-manische Geschichte.
Ihre Haare waren weiß und würden es bleiben. Das Zittern würde nicht mehr weggehen.
Das Leben verschwindet schon bevor es endgültig geht. Immer weniger fällt auf fruchtbaren Grund und die vielen Erinnerungen wiegen sich in einem nachlassenden Wind. Über das Ende des Lebens und die lange Strecke der Erinnerungen hat Laura Freudenthaler einen mehr als grandiosen Text geschrieben: „Die Königin schweigt“. Das Portrait einer alten Frau, die versucht sich in ihrem Alltag einen Rest an Gewohnheit zu bewahren, sich nicht von den nahenden Einschränkungen erdrücken zu lassen. Die Schilderung eines ihrer Vormittage geht beinah nahtlos über in eine Erinnerung an ihre Kindheit. Die Enkelin wünscht sich, dass sie das alles einmal aufschreibt, sie hat ihr sogar ein leeres Buch dagelassen, das die geschilderte Erinnerung anstößt. Ein sehr berührender, hervorragend gearbeiteter Text!
Historische Ereignisse, mit denen man sich nicht mehr befassen will. Kathrin Rögglas Interviewerin würde gerne ein einfaches, tagesaktuelles Interview machen. Also warum hört die Dolmetscherin, mit der sie über den G7-Gipfel reden will, nicht endlich auf von Massakern aus dem Jugoslawienkrieg zu erzählen – sowas sprengt doch nur den Rahmen!
Klug entlarvt die Autorin die Versessenheit, mit der die Medien immer auf das nächste Pferd aufspringen, auch wenn viele Karren noch nicht aus dem Dreck gezogen sind.
Ein wunderbares, kurzes Paradestück ist Robert Woelfl mit „Freiheit durch Hochseilartisten“ geglückt. In der Tat: sind Ängste nicht oftmals angenommene Projektionen? Und was bannt uns vor den Fernsehern, in Theaterstühlen und an allen sonstigen Attraktionen? Ist es nicht auch das Abgeben des im-eigenen-Schicksal-gefangen-Seins, das nun eine Weile nur für die darbietende Personen gilt? Ist ein Publikum nicht eine Masse, deren Gefühle wie Fäden in den wenigen Darbietenden zusammenlaufen und jede Aufführung einer Kunst eine Hypnose, die für kurze Zeit Ablenkung von den eigenen Verschränkungen in die Welt verspricht und sie dabei gleichsam enger schnürt? Ein toller Text.
Autos versprechen Unabhängigkeit, Freiheit. Kein Wunder also, dass die Protagonistin, die in Maria Muhars Text aus dem Haus geht, um einen ansprechenden Satz zu suchen und dabei größtenteils auf Werbesätze von Versicherungen und Banken stößt, die ihr durch die Bank weg versichern, dass es allerhöchste Zeit ist und nur dann kein Grund mehr zur Sorge besteht, wenn jetzt sofort die Altersvorsorge geplant wird, plötzlich auf die Idee kommt, ein Auto zu kaufen. Denn wie soll man sich bitte in dieser Welt behaupten, den Eltern unter die Augen treten (die alles bezahlen), an die Zukunft denken, und das alles nach einem schönen Tag am Meer – da will man doch einfach nur noch weg.
Befriedigung ist das Schlachtfeld. Wer stellt sie mit welchen Mitteln her?
Lydia Mischkulnigs längere Geschichte über Beautywahn, Sündenpfuhle, Befriedigungsnot und mangelnde Entfaltungsmöglichkeiten innerhalb der Konsumwelt, ist mir leider kaum nah gegangen, ich bin irgendwie durch die Erzählung durchgerutscht. Der Großteil des Textes spielt in einem Beauty-Salon und auch wenn es eine schöne Überlagerung von Ebenen gibt, hatte ich mir nach den ersten zwei Seiten mehr erhofft, als das, was dann tatsächlich verhandelt wird und passiert. Es wird einiges angerissen, aber wenig davon wird zur Eskalation, zum Konflikt gebracht.
Ein verheißungsvoller Titel: „Größtmögliche Form der Offenheit“. Was verbirgt sich dahinter? Eine kurze, schweifende Szene vor einem Krankenhaus, allerhand larvende Betrachtungen, eine sauber geschnitzte und in Erinnerungen getauchte Verdichtung. Eine Person namens K. soll besucht werden – wodurch sich kurz der Eindruck aufdrängt, es handle sich hierbei um eine Kafkaparodie. Aber der Gedanke führt nirgendwohin. Wie auch der Text nirgendwo wirklich hinführt. Und bis auf einige luzide Momente unterwältigend bleibt.
Unter dieser Schicht, die unsere Knochen und Muskeln umgibt, diesem größten Organ überhaupt, werden Kot, Urin, Sperma, Blut, Speichel, Galle, Eiter, Rotz und noch andere Flüssigkeiten produziert. Bei diesem Gedanken fühlt man sich schnell mal unwohl in seiner Haut. Aber sie ist und bleibt unsere Hülle, der Leiter vieler Kontakte; Berührungen unterschiedlichsten Ausmaßes muss sie aushalten, lässt sie zu, nimmt sie auf. Gerhard Rühm ist wenig zimperlich und ein ums andere Mal ist man bei seiner Textsammlung „Hautung“ kurz davor, das Ganze recht geschmacklos zu finden. Aber immer wieder sind da poetische Bilder und gelungene Annäherungen, ganze Aspektanreicherungen zum Thema Haut, die eben nicht nur eruptiv sind, sondern die Texte auch zu existenziellen Äußerungen werden lassen.
Ich mag den Text von Judith Nika Pfeifer, eine Aneinanderreihung von kleinen Lebens- und Liebesdebakeln, in der die Nebencharaktere des einen Abschnitts zu Hauptcharakteren des folgenden Abschnitts werden. Diese Überblendungen haben etwas Skurriles, Flüchtiges, aber es liegt auch eine erstaunliche Tiefe darin, gerade weil eine Geschichte so schnell von ihrer Autorin beiseite gewischt werden kann, ohne zu Ende erzählt worden zu sein.
Hanno Millesis „Old School“ scheint mit den beiden vorangegangenen Texten zu korrespondieren, denn auch hier geht es um einen abgetrennten Arm (ebenso wie in einer Episode von Pfeifer) und um Haut (Rühm). Die etwas holprige Art des Erzählens – die sich schnell als beabsichtigt und auch gelungen erweist – lässt einen leichten Flimmer von Irrwitz über manchem Satz schweben, wodurch das Thema vom Autor gut intoniert wird, da er es so nicht ins Lächerliche zieht, aber auch nicht in einer Gewöhnlichkeit Platz nehmen lässt. Eine Geschichte, die das Spektrum des Wortes „Phantomschmerz“ noch um einige Aspekte erweitert.
Romanauszüge sind oft eine schwierige Angelegenheit. Selbst wenn der Auszug eine abgeschlossenen Geschichte darstellt oder als Stilprobe angesehen werden soll – Romane sind längerfristige Verdichtungen, aus denen man nicht einfach so Teile herausnehmen kann, um damit auf das Gesamtpaket zu verweisen (Ausnahmen, die es in jedem Fall gibt, bestätigen in der Regel die Regel). Gerade bei den beiden Romanauszügen von Simone Hirth und Anna Weidenholzer ist mir aufgefallen, dass ich zwar die jeweilige Art zu erzählen schätzen, mich aber doch nicht richtig auf die Geschichten einlassen kann, weil ich weiß, dass sie mir die Ausschnitte mehr vorenthalten als sie mir geben. Bei Bildern oder Filmen will ich ja auch nicht nur einen Teil sehen. Ein Romanauszug kann Lust machen auf den ganzen Text, die Neugierde wecken, aber das kann bis zum einem gewissen Grad auch eine Rezension mit Zitaten (natürlich sind Rezensionen Verzerrungen, manchmal sogar Entstellungen und in jedem Fall von Urteilen und über die Textstruktur gestülpten Ideen durchzogen), ein Klappentext, eine Inhaltsangabe. Aber um zu den Texten zurückkommen: an beide bin ich nicht wirklich herangekommen, obgleich: stilistisch gibt es wenig zu mäkeln, in beiden Texten sind schöne Ambivalenzen angelegt.
Die Aussichtslosigkeit allen Daseins, die wandelnden, sich häufenden Klischees, die Schienen, auf denen sich vieles im Leben bewegt – das alles kann einen schon mal glauben machen, dass es hinter dem Horizont nichts Neues mehr gibt; alles hat man schon gesehen, alles ist eingespielt und es ist als könnte man sogar die Zukunft schon vorhersagen. Genau das glaubt die Protagonistin in dem großartigen Text von Irmgard Fuchs: sie kann in die Zukunft sehen, weiß was als nächstes passiert und wie die Dinge und Menschen und Veränderungen ihren Laufen nehmen werden. Nichts Überraschendes mehr, nur das kleine Einmaleins des Alltags, dem man mit Sprache, Träumen und Einsichten noch etwas abzutrotzen versucht. Oder anders: indem man ein altes Faxgerät wieder zum Laufen bringt und auf alte, aufgestaute Nachrichten aus der Vergangenheit hofft – da könnte ja noch etwas ankommen, etwas, das alles ändert.
Die Autorin hat ein wunderbares Bewusstsein für Sprache, ein extrem gutes Händchen dafür, ihren Sätzen Präsenz und Untiefen zu verleihen. Ein dichtes Prosastück, das man nur zur Lektüre empfehlen kann.
Und noch zwei Romanauszüge. Der von Iris Blauensteiner hat eine gewisse Beliebigkeit in seinem Ton, aber gerade in dieser Beliebigkeit könnte sich über längere Strecken, in einem Roman, eine schmerzliche Facette der zwischenmenschlichen Hilflosigkeit offenbaren, die in den Gesprächen zwischen der Mutter und Tochter bereits teilweise zu Tage tritt.
Robert Prossers Romanauszug changiert sehr stark – am Anfang glaubt man sich noch in einer Sprayer-Geschichte mit einem nebulösen Ich, das poetisch-kryptische Überlegungen anstellt, dann wird der Raum der Geschichte auf einmal breiter und es geht um eine Reise nach Bosnien und die Lebenswirklichkeit vor Ort. Der Stil hat etwas Bezwingendes, er setzt dem gerade Verlautbarten ständig nach, als gelte es, etwas sehr Engmaschiges zu weben, das nicht mehr durchschlagen werden kann. Ein starker Text, ohne Zweifel, der mir in diesem Ausschnitt noch etwas zu zusammenhanglos erscheint.
Thomas Ballhausens eingängig-eindringliche Karteikarten lullen den Verstand ein wenig ein, was vielleicht nicht unbedingt beabsichtig ist. Irgendwann sind sie nur noch eine Stimme im Ohr und man kann nicht mehr zwischen Beschworenem und Vermitteltem unterscheiden. Die Texte versetzen ihre Sprache in schöne Schwingungen, aber alles, was bei mir ankommt, zieht sich schon wieder zurück, statt sich zuzuziehen.
Der letzte Text von Ulrike Schmitzer, die Geschichte eines Paares, das Eltern wird durch eine Leihmutterschaft, ist etwas verzettelt in seiner Narration, aber mit schönen poetischen Einschlägen und einem gelungenen, erzählerischen Bogen.
Es folgen noch einige Literaturrezensionen, u.a. eine sehr schöne Besprechung von Emily Dickinsons „Sämtlichen Gedichten“, erschienen im Hanser Verlag, durch Herbert J. Wimmer.
Drei, vier sehr starke Texte in dieser Kolik, was für eine Literaturzeitschrift ja ein guter Schnitt ist. Über Romanauszüge werde ich mich hier am Ende jetzt nicht weiter aufregen. Ich les lieber noch mal den Text von Irmgard Fuchs.
Beteiligte Autor_innen der 69. Ausgabe Kolik, Zeitschrift für Literatur:
Fixpoetry 2017
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