Der Roman, der vor sich selbst flieht
Karl und der Mann schweigen, sie sehen den Hühnern zu, die sich auf der Stange drehen. Karl wischt die Hände erneut an der Serviette ab, aber es wird nicht besser. Wir möchten folgender Frage nachgehen, beginnt er und denkt: Ich weiß es doch auch nicht mehr.
Was die Gesellschaft der Angst, Tarot als Spiegel der Seele, Hansi Hinterseers „Du bist mein Leben“ und der Fragebogen zum Bruttonationalglück in Bhutan gemeinsam haben? Ganz einfach: sie sind die von Anna Weidenholzer „Verwendete Literatur“ für ihren Roman Weshalb die Herren Seesterne tragen. Das sagt schon sehr viel aus über ein Buch, das auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2016 landete und von der Kritik bislang durchwegs überschwänglich gelobt wurde.
Der Titel Weshalb die Herren Seesterne tragen von Anna Weidenholzer klingt ebenso vielversprechend, wie der ihres Vorgängerromanes Der Winter tut den Fischen gut. Auch das Buchcover weckt entfernt Erinnerungen an die Tapete des Vorgängerromanes, ist es doch ebenso eigenwillig in all seiner schwindlig machenden gepunkteten Kleingemustertheit. Der Klappentext greift dann überaus vollmundig zu Superlativen: „Anna Weidenholzer gelingt mit diesem meisterhaften Roman ein intensives und eigenwilliges literarisches Kammerspiel.“ Aber, wenn man darauf hin voll Vorfreude zu lesen beginnt, mit der Erwartungshaltung, dass die Autorin sich bzw. ihr Schreiben in der Zwischenzeit wohl sicherlich auch noch um einiges weiterentwickelt hat, so sind Enttäuschung und Ernüchterung schon sehr schnell sehr groß. Denn Weshalb die Herren Seesterne tragen fällt sehr weit hinter Der Winter tut den Fischen gut zurück. Es ist ein unausgegorener Roman, der als Roman zerfällt und nicht überzeugt.
Es geht um einen selbsternannten Glücksforscher, einen pensionierten Lehrer der überstürzt und ohne seiner Frau Bescheid zu geben mit dem leicht überarbeiteten Fragebogen zum Bruttonationalglück in Bhutan in einen schneelosen Skiort fährt. Soweit so gut. Woran es hakt sind weniger die Zutaten, als die Umsetzung.
Auch bei den Zutaten fällt auf, dass Anna Weidenholzer auf einen ähnlichen Bausatz wie in Der Winter tut den Fischen gut zurückgreift. Es kommt dabei allerdings zu einer Geschlechtsumwandlung: Die ältere arbeitslose Maria als Protagonistin wird ersetzt durch den kürzlich pensionierten Lehrer Karl, während der alte Hund Berti zur alten Hündin Annemarie wird. Gleich bleibt, dass die älteren Protagonisten – kurz vor bzw. kurz nach der Pensionierung – mit der plötzlich von außen auferlegten Untätigkeit nur schwer zurechtkommen. Und auch in Bezug auf kleine Details kommt es beim Lesen zu Déjà-Vu- Erlebnissen, beispielsweise wiederholt sich die Wahrsageszene. Es wird nun allerdings bei Kerzenlicht eine Tarotkarte gezogen, statt dass aus Kaffeesatz gelesen wird. Der Kaffeesatz wirkte jedoch wesentlich überzeugender, da es da kein erklärendes Buch zum Nachschlagen nötig gehabt hatte. Und da macht es sich Anna Weidenholzer so leicht wie möglich, lässt sie ihre Figur doch ganz einfach aus einem realen Tarot-Buch vorlesen, das sie schlicht zitiert.
Die Hauptperson Karl möchte keine Namen wissen, unterteilt die Menschheit stattdessen in M und F, für Männer und Frauen, und nummeriert diese dann durch. Doch das System funktioniert nur sehr schlecht, erfährt er doch immer wieder Namen und bringt alles durcheinander. Das wäre an und für sich ok und an sich kein großes Problem, doch wirkt es immer wieder so, als käme die Autorin selbst ebenso mit der Vielzahl ihrer durchnummerierten Nebenfiguren durcheinander. Viele Nebenfiguren und –erzählstränge bleiben auf halbem Weg liegen, als hätte die Autorin einfach auf sie vergessen oder schlicht den Überblick verloren. Da gibt es zum Beispiel die Frau, die früher vor dem Altstoffsammelzentrum saß. Sie wird mit großem Aufwand eingeführt, dann später wieder aufgegriffen, aber daraufhin gleich wieder und endgültig vergessen.
Karl stellt Fragen, viele Fragen, aber nicht die, welche ihn eigentlich interessieren würden. Mit seinen vielen Fragen steht er sich selbst im Weg. Was ihm bleibt sind keine Antworten, sondern immer nur weitere unbeantwortete Fragen. Zu Beginn stellt er klare Regeln auf, welche die Objektivität sichern sollen. Doch schon sehr bald modifiziert er seine eigenen Regeln, ändert die Fragen und seine Vorgehensweise nach Belieben. Dabei erkennt er nicht, dass das Problem viel grundlegender ist: Nicht das Fragenstellen ist es, worauf es ankommt, möchte man etwas in Erfahrung bringen, sondern das Zuhören. Und an genau diesem Punkt scheitert nicht nur der Protagonist Karl mit seinem adaptierten Fragebogen zum Bruttonationalglück in Bhutan, sondern auch die Autorin selbst. Sie stellt gleichsam Frage nach Frage, hetzt von einer Nebenfigur zur nächsten, statt den bereits vorhandenen Figuren Raum und Zeit zuzugestehen. Vorgenommen hatte sie sich eine „Tiefenbohrung in die Seele unserer Gesellschaft“ (Klappentext), kratzt dabei aber höchstens einmal leicht an der Oberfläche.
Und damit zurück in unsere Welt, sagt der Nachrichtensprecher und Karl kehrt um.
Die vielen Nebenfiguren haben alle durchwegs seltsame Ticks, die jedoch so übertrieben sind, dass die Figuren damit nicht mehr charakterisiert, sondern eher schon karikiert werden. Es soll wohl lustig sein, dass M2 als eingefleischter Hansi-Hinterseer-Fan in seine eigene Haarpracht so sehr verliebt ist, dass er Karl erst einmal zu seiner bettlägerigen Schwiegermutter ins Zimmer setzt, weil er als erstes unbedingt noch Haare waschen muss, bevor er die Fragen des Fragebogens beantworten kann. Selbst Karl als Protagonist wird schon von Beginn an als nicht ganz ernst zu nehmende Figur abgestempelt, da lang und breit ausgeführt wird, dass und warum er zum Schlafen am liebsten ein altes Nachthemd seiner Frau mit gähnendem Löwen trägt. Na und, soll er halt! Möchte man irgendwann entnervt ausrufen. Früher war es immerhin normal, dass Männer Nachthemden tragen, warum muss der arme Karl jetzt immer und immer wieder damit bloßgestellt werden?
Eine interessante Nebenfigur ist die Wirtin. Sie ist die Hauptnebenfigur, die Karl gegenüber gestellt wird. Auf der anderen Seite gibt es da noch die Stimme seiner Frau Margit in seinem Kopf, die dabei aber so penetrant besserwisserisch ist, dass es nicht wirklich verwundert, warum Karl eines Tages einfach ohne ein Wort zu sagen ins Auto stieg und wegfuhr um seine Umfrage zu starten. Als er schlussendlich zu seiner Frau zurück fährt, wechselt auch die Stimme in seinem Kopf und er hört nun statt seiner Frau, der er möglicherweise gleich gegenübersteht, die Stimme der Wirtin. Die Wirtin ist insofern interessant, weil sie im Laufe des Romans, innerhalb einer Zeitspanne von wenigen Wochen, mehrere komplette Charakteränderungen durchmacht. Ihr Verhalten verändert sich dabei auch jedes Mal von Grund auf: Zu Beginn ist sie noch die sehr sympathische, durch und durch grantige Wirtin, die ihren einzigen Gast so schnell wie möglich wieder los zu werden versucht. Später kommt ein weiteres Gästeehepaar und nun wird sie zur freundlich zuvorkommenden Gastwirtin schlechthin, was bei Karl eine seltsam anmutende Eifersucht auslöst. Dann gibt es noch einen Augenblick, in dem sie die frustrierte Alkoholikerin ist, die schon morgens trinkt. Zwischendurch wird sie aber auch immer wieder als hilflos ängstlich gezeigt, fürchtet sie sich doch selbst vor dem Postboten. Dann wieder ist sie die von tragischen Schicksalsschlägen gebeutelte und von ihrem Ehemann verlassene Frau. Und am Schluss, beim großen Lichtbildvortrag, ist sie mit einem Schlag wieder eine aufgekratzt fröhliche und leutselige Frau.
Im Ganzen bewegt sich der Roman in zwei Richtungen, in die kopflose Flucht ins Ungewisse und in unbewegten Stillstand:
Der Advent beginnt früher, als man denkt, antwortet die Wirtin und sammelt die Kürbisse ein. Schade darum, Zierkürbisse schmecken bitter und können tödlich sein, aber unter uns, ich mag den Kürbis ohnehin nicht. Die Gäste erwarten das im Herbst, Kürbissuppe, Kürbisgulasch, ich koche vor, ich friere ein. Und jedes Jahr, wenn ich die alten Kürbisgerichte gegen die neuen tausche, denke ich: Wie die Zeit vergeht, zeigt das Eingefrorene.
Und ja, es finden sich auch poetische Momente im Roman, aber man muss sie schon suchen:
Ich sehe den Bäumen zu, wie sie ihr Laub verlieren und Krähen statt Früchte tragen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir es hier mit einem erstaunlichen Phänomen zu tun haben: einem Roman, der vor sich selbst flieht. Und das entspricht wiederum genau dem Verhalten der Hauptperson, Karl, der ebenso versucht, vor sich selbst davon zu laufen. Insofern ist es ein sehr bemerkenswerter Roman, weil formal umgesetzt wird, worum es inhaltlich geht. Der Roman bleibt gleich seinem Protagonisten in einem Dazwischen stecken, flieht vor sich selbst ohne jemals bei sich anzukommen:
Wenn einen die Angst erwischt, weil man zu spät aufgebrochen ist, wenn einen die Angst vor der Ankunft nicht loslässt, ist das Dazwischen der angenehmste, ein luftleerer Raum.
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