Die Mutter wars
Nicht so schlimm, das sagt der Mann zu der Frau, die ihm ihre Narbe nach der Brustamputation zeigt. Nicht nur zeigt, sondern seine Hand auf die fehlende Brust legt. Eine erschütternde Szene, eine gruslige Szene, denn der Mann ist der Sohn der Frau ohne Brust. Hans Ulrich Treichel zeigt den Protagonisten in seinem Roman „Frühe Störung“ ausgeliefert. Ausgeliefert einem Cocktail von widersprüchlichen Gefühlen. Er möchte die körperliche Nähe seiner Mutter fliehen, ob mit oder ohne Brust. Er möchte dennoch tun, was von ihm erwartet wird, der Frau sein Mitgefühl nicht verweigern. Also sagt er: Kein Grund, sich zu schämen.
Diese Stelle zeigt, dass der Begriff Schöne Literatur uns alle in die Irre führt. Literatur muss nicht schön sein. Literatur kann wehtun, erst dann ist sie „schön“. Diese und viele andere Stellen in Treichels Roman tun weh, sie lassen einen schaudern, vielleicht sogar ekeln. Der Schriftsteller legt den Finger in die Wunde, gnadenlos. Denn der Protagonist hat ein Problem mit seiner Mutter. Selbst nach ihrem Tod ruft es in ihm: Mutter Mutter Mutter.
Treichel macht es dem Leser nicht leicht. Gleich zu Beginn liegt sein Protagonist auf der Couch eines Psychoanalytikers, möchte ein „schwerer“ Fall sein und damit ernst genommen mit seinem Problem. Bitte nicht, habe ich mir als Leserin gedacht, muss ich das jetzt wirklich bis zu Ende lesen? Doch Treichels Art zu Erzählen hilft über die ersten schweren Seiten hinweg. Er vergleicht die Sammelleidenschaft Sigmund Freuds für Figuren mit seiner eigenen kindlichen Sehnsucht nach Kuscheltieren, die ihm die Mutter versagt hat. Ein austherapierter Mensch wirft die Kuscheltiere weg, denkt er, und stellt sich Figuren ins Regal.
Und Treichel lässt uns Gottlob nicht daran teilhaben, was er dem Psychoanalytiker erzählt. Nur, dass ihn ein leichtes Weh ergreift, als er „austherapiert“ durch die Straßen irrt. Er weiß natürlich, dass er damit sein Problem nicht los ist, es schallt weiterhin in seinem Kopf, diesmal: Franz!
So heißt er, ist Mitte vierzig, hat Geografie studiert und ist nun Reiseschriftsteller. Einzig bisher erschienen ein Reiseführer zum Darß. Hiddensee war schon vergeben. Gern würde er mehr machen - Rom und Indien, am besten mit Reisekosten und Spesen. Oder erstmal die Uckermark. Doch sein Verleger winkt ab. Die Frau des Verlegers verwechselt den Reiseschriftsteller mit einem anderen Autor und plötzlich hat er einen Auftrag in der Tasche, der ihn sehr beunruhigt. Als Ghostwriter soll er die Biografie einer Politikerin schreiben, einer Ministerin, die sehr an Regine Hildebrandt erinnert. Die erste Begegnung mit der Landesmutter verläuft unglücklich, so dass er dankbar die Flucht ergreift. Das war überhaupt nicht sein Frauentyp. Hier stellt sich heraus, dass er gar nicht weiß, wie die Frau aussehen soll, mit der etwas anfangen kann. Immer wieder schieben sich die Bilder dazwischen, wie nah ihm seine Mutter beim Mittagsschlaf auf die Pelle rückt. Wie er mit angehaltenem Atem wegrückt von dem schwitzenden feuchtwarmen Leib und dem geöffneten Mund, der leise schnarchend Speichel absondert. Das Bild zieht sich, den Leser lästig verfolgend, gnadenlos durch den Roman. Dem Protagonisten Franz ist das selbst ungeheuer, dass dieses Bild so übermächtig ist, während Kriege in der Welt sind und Kinder in Indien hungern: er fühlt sich bedroht von dieser Mutter, dieser Übermacht.
Als die Mutter im Krankenhaus liegt, ihr die Brust amputiert wird, flieht er nach Rom, aus beruflichen Gründen, sagte er der Mutter. Natürlich verfolgt ihn seine Mutter in Rom, sie singt ein Lied, ein Trostlied für den „schuldgeplagten“, den „kalten, den toten Sohn“. Beim Betrachten der Pieta hinter Panzerglas denkt er, dass der Verrückte, der einst mit einem Hammer auf die Pieta eingeschlagen hatte, „gar nicht verrückt“ gewesen war, sondern nur die Mutterstimme zum Schweigen bringen wollte, die ihm ohne Unterlass ein „süßes sanftes Trostlied sang“. Er entkommt der Mutter nicht, nicht in Rom, nicht in Indien, immer wieder rückt er weg von der Mutter, doch sie rückt nach.
„Frühe Störung“ ist ein Gegenstück zu Peter Wawerzineks Muttersehnsucht in dessen preisgekrönten Roman „Rabenliebe“. Den einen quält die Abwesenheit - den anderen die zu große Nähe der Mutter. Beides ist ungesund. Beide sind längst erwachsene Männer, die von ihrer Kindheit getrieben durch die Lande irren. Der eine auf der Suche, der andere auf der Flucht. Wawerzineks Sprache ist emotional, von poetischen Bildern aus allen Nähten platzend, ihm diktiert die Sehnsucht. Treichels Sprache ist kühl wie der Marmor von Michelangelos Pieta. Kühl und distanziert, von leiser Ironie durchzogen, als könnte er sich damit die Mutter vom Hals halten. Und doch gelingt es ihm diese schwitzende Nähe der Mutter unangenehm lebendig zu machen: „Die dunkelroten Vorhänge wurden zugezogen, und der Raum verwandelte sich in eine nach mütterlichem Schweiß und Atem riechende dunstig-rötliche Höhle.“ Das Bild des Mittagsschlafs ist gut gewählt. Die einen verbinden damit eine unangenehme Pflichtübung, die anderen - sofern sie nicht neben der Mutter liegen müssen - eine Stunde der Freiheit, ohne mütterliche Aufsicht, eine Stunde des Übermuts, wie sie mir vergönnt war: Da wurden Zöpfe abgeschnitten, Doktorspiele gespielt, Tapetenmuster nachgemalt. Und das erzwungene Leisesein, um nicht die Aufmerksamkeit der Aufsichtspersonen zu erregen, verlieh den illegalen Spielen einen besonderen Reiz.
Eigentlich sollte man dieses Buch allen „Helikoptereltern“, auch manchen alleinerziehenden Müttern in die Hand drücken. Selbst wenn aus ihren Kindern kein Mutter Mutter Mutter Franz werden sollte, die Gefahr ist da durch Überpräsenz, die der gefährdeten Pflanze Kind Licht Luft zum Raum zum Selberatmen nimmt. Die frühe Störung eben, die dann die erwachsenen Kinder durch das Leben und die Länder jagt auf der Flucht vor den Eltern, meist eben doch der Mutter: Die Mutter war´s, was braucht´s der Worte mehr…
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