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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Liberalismus und andere Bedrohungen

„Das Büro“ erreicht die 1980er Jahre
Hamburg

In Großbritannien regiert Margaret Thatcher; und in den USA wird mit Ronald Reagan ein ehemaliger Schauspieler, Republikaner obendrein, zum Präsidenten gewählt. Mit alledem könnten Maarten Koning und seine rührigen Kollegen im Amsterdamer Büro für Volkskunde, auch wenn es schwer fällt, noch leben. Schließlich sind Amerika und England in weiter Ferne, und zu wissen, wo der Feind steht, schadet nie. Bei der politischen Einordnung hilft der „Groene Amsterdammer“, das Wochenblatt des linksliberalen Bürgertums, in dem Maartens Frau Nicolien in regelmäßigen Leserbriefen die Ungerechtigkeiten in der Welt beim Namen nennt.  

Überhaupt erfährt man im fünften Band des auf sieben Teile angelegten Mammutromans von J.J. Voskuil einiges über das Privatleben der Konings. Und auch dort entwickeln sich die Dinge nicht zum Besseren. Nicolines Mutter muss in ein Altersheim; der seelische Zustand des gemeinsamen Freundes Frans bereitet zunehmend Sorgen; und das seit Jahrzehnten angesteuerte, einst so idyllische Urlaubsörtchen in der Auvergne hat dem Massentourismus Tür und Tor geöffnet – zumindest empfinden Maarten und Nicolien es so, also dort ein weiteres Hotel eröffnet und die Natur mit einem Parkplatz für Besucher verschandelt wird. 

Die eigentlichen Dramen spielen sich aber weiterhin im Büro ab. Denn so sehr man sich auch darum bemüht: Der Zeitgeist geht an den Amsterdamer Volkskundlern nicht spurlos vorüber. Ölkrise und Rezession haben das Land erfasst, und die Politik sucht händeringend nach Möglichkeiten, die klammen Kassen von unnötigen Ausgaben zu befreien. Schnell fällt das Augenmerk auf das Büro; sogar dessen Auflösung steht im Raum, wobei sich jetzt rächt, dass der Abschluss der seit Jahren angekündigten – öffentlich finanzierten – „Bibliografie des geistlichen Liedes“ weiterhin in den Sternen steht.   

Das für sich genommen wäre schon unangenehm genug, da fordert das Ministerium auch noch eine „Selbstevaluierung“ des Büros. Eine Einmischung, die zu Ratlosigkeit bei der Institutsleitung und Unruhe unter den Mitarbeitern führt. Glücklicherweise ist die Bibliothek gut mit Nachschlagewerken bestückt, so dass man der Bedeutung des vom Ministerium benutzten Begriffs „Output“ auf den Grund gehen kann. Hektische werden Publikationslisten zusammengestellt, zu denen Maarten, der sich mittlerweile als ein europaweit gefragter Experte auf dem Gebiet der Weihnachtsbaum- und Bauernhausforschung etabliert hat, einiges beitragen kann.  

Genugtuung verschafft ihm das allerdings nicht. Im Gegenteil, jede Sitzung, jeder Vortrag ist Maarten eine Qual. Seiner Rolle als Vorgesetzter und Leiter „Volkskultur“, immerhin die größte Abteilung des Büros, fühlt er sich nicht gewachsen. Als sein Vorschlag, die geforderten Einsparungen mit Gehaltskürzungen für alle zu bewerkstelligen – Maarten selbst würde am liebsten das Sozialhilfeniveau anpeilen, für so sinnlos hält er die Arbeit des Büros –, von der Institutsleitung abgelehnt wird, deprimiert ihn das. Auch den Protesten gegen NATO-Doppelbeschluss und Militarismus kann er, anders als Nicolien, nichts mehr abgewinnen. Den Polizisten, die einen Demonstranten vor seinen Augen zusammenschlagen, würde er am liebsten zur Hand gehen; danach schämt er sich für seine Gedanken.

Resignation und Wehmut allen Ortes prägen die Bürojahre 1979 bis 1982. Maarten, mittlerweile Mitte 50, leidet an sich und seiner Umgebung; und an der Verantwortung gegenüber seinen Kollegen und der Abteilung, die ihn nicht loslässt und was regelmäßig zu Auseinandersetzungen mit Nicolien führt. Daran etwas zu ändern, vermag er aber nicht. Dazu kommt, dass die älteren Kollegen und Weggefährten sich zurückziehen oder sterben; und auch die Besuche bei seinem einstigen Mentor Beerta, der seit einem Schlaganfall ans Bett gefesselt ist und kaum mehr sprechen kann, tragen nicht dazu bei, dass sich Maartens Stimmung aufhellt.   

Die guten Jahre des Büros, sofern es sie denn je gab, davon ist Maarten überzeugt, sind unwiederbringlich vorüber. Alles was jetzt noch kommen mag, es muss überstanden werden – aus Pflichtgefühl, wobei man bisweilen rätselt, welche Pflichten Maarten sich da nur selbst aufgebürdet hat.

Das endgültig zu beantworten, dafür ist es aber noch zu früh. Denn noch stehen zwei Bänder oder rund 2.000 Romanseiten aus. Ab dem Frühjahr darf man dann nachlesen, wie es tatsächlich mit Maarten und seinen Kollegen weitergeht. Dann erscheint im Verbrecher Verlag der sechste und vorletzte Band der grandiosen Büro-Heptalogie.

J.J. Voskuil
Das Büro 5: Und auch Wehmütigkeit
Aus dem Niederländischen von Gerd Busse
Verbrecher Verlag
2016 · 932 Seiten · 32,00 Euro
ISBN:
9783957320100

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