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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Bitteres Brot

Ein Muss für jede Bibliothek
Hamburg

Was ist ein politisches Gedicht?, fragt Joachim Sartorius in der Einführung zu seinem Buch, und wann ist ein politisches Gedicht ein gutes, ein gelungenes? Entweder, so u.a. die Antwort des Herausgebers, müsse der Anlass, das Gedicht zu schreiben, ein politischer gewesen sein oder der Autor verfolge mit dem Gedicht eine politische Absicht und stelle es in einen politischen Kontext. Was fast immer zur Überschneidung von Ästhetik und Ethik führe.

Als Fazit seiner Überlegungen legt Sartorius dieses Handbuch vor, das keine wissenschaftliche Abhandlung ist, sondern eine subjektive Auswahl politischer Poesie, die die Kriege, Zeitenwenden und Utopien des 20. Jahrhunderts literarisch aufgreift und verdichtet. Chronologisch in 19 Kapitel gegliedert, mit einem Epilog von Bob Dylan, hat er mehr als 100 repräsentative, politische Gedichte aufgenommen: Zum armenischen Genozid etwa, den beiden Weltkriegen, den Befreiungsbewegungen Lateinamerikas oder dem Bosnienkrieg; wir lesen über die Auswirkungen von russischer Revolution, Kommunismus und Repression in Osteuropa, stolpern weiter zu Afrika und dem Kampf gegen die Apartheid, den Kriegen in Korea, Kambodscha und Vietnam oder den Konflikten im Nahen Osten. Eigene Kapitel sind Todeslagern gewidmet oder dem Thema Flucht, Emigration und Exil, die durch die politische Gemengelage unserer Tage aktuelle Brisanz erhalten.

Jeder Abschnitt beginnt mit einer kurzen historischen Einführung. Die den Gedichten vorangestellten Dichterbiografien sind ebenfalls hilfreich im Verstehen des jeweiligen Kontexts. Bekannte Namen sind zu finden, doch wurden auch beeindruckende Gedichte unbekannter Autoren aufgenommen. Die meisten Lyriker schrieben aus eigener Anschauung, brachten Erlebtes und Erfahrenes zu Papier und uns heute in Erinnerung: Etwa einen Giftgasangriff im 1.Weltkrieg (Wilfried Owen), der auch an Saddam Husseins Giftgasangriff auf Kurden im Nordirak denken lässt, oder eine Massenvergewaltigung in Armenien (Siamanto) vor 100 Jahren, die in ihrer menschenverachtenden Grausamkeit genau so in jedem heutigen Kriegsszenario denkbar ist.

Hier sei eine subjektive Einschätzung gewährt: Schon nach dem ersten Blättern ist klar, dieses Werk ist eine einzige Zumutung. Viele Gedichte sind verdichtetes Grauen pur, voll Wucht packend und derart schrecklich und widerwärtig, dass ich das Buch oftmals weglegen musste. Um kurz darauf wieder danach zu greifen, weil sie das alles auch, aber in der poetischen Verdichtung ergreifend sind. Insofern erlangte der Titel „Niemals ohne Atempause“, dem Gedicht „Diese Jahrtausende ...“ von Nelly Sachs entliehen, lesend für mich noch eine weitere Dimension.

Natürlich kann eine derartige Anthologie nicht alles, bleibt Auswahl und somit Stückwerk als Folge der notwendigen Beschränkung. So ist manchmal zu wenig vom einen, vom anderen zu viel drin. Bei schwächeren Gedichten zum Beispiel ist unklar, weshalb sie hier Eingang gefunden haben. Weshalb von manchen Dichtern mehrere Gedichte zu lesen sind, während andere Namen fehlen, Benn etwa, Grusa oder Lorca, um nur drei zu nennen, ist zumindest rätselhaft. Vor allem aber fehlen die Dichterinnen, die hier leider unterrepräsentiert sind!

Dafür werden im Anschluss, „Schreckenskammer“ betitelt, Poeme von Massenschlächtern abgedruckt. Ja, auch Stalin, Mao oder Karadzic fühlten sich berufen, nun ja, zu dichten, Mörder und Despoten, die so viel Angst vor dem Wort hatten, dass sie DichterInnen deshalb verfolgten und umbrachten. Ihre Angst ist berechtigt. Sartorius sammelt eindrückliche Beispiele dafür, was geschieht, wenn man nichts als Worte, richtiger: wenn man treffende Worte und das Quäntchen Courage hat, sie einzusetzen und nicht zu verstummen. So kündet diese Anthologie nicht nur an- und aufregend, sondern in vielerlei Hinsicht lehrreich von der Macht der Worttäter, bietet manche Entdeckungen und sollte als literar- wie zeithistorisches Dokument in keiner Bibliothek fehlen.

Joachim Sartorius
Niemals eine Atempause
Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert
Kiepenheuer & Witsch
2014 · 348 Seiten · 22,99 Euro
ISBN:
978-3-462-04691-5

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