Zügellose Utopie der Körper
„Monströs“, „pornographisch“ und „gefährlich“ – Adjektive, die im Zusammenhang mit Jonathan Littells Skandalroman „Die Wohlgesinnten“ (2008) lawinenartig durch die Presse donnerten – sind Begriffe, mit denen sich zweifellos auch sein aktuelles Werk „Eine alte Geschichte“ umschreiben ließe. Denn auf gerade mal 130 Seiten entfaltet Littell ein verstörendes Panorama aus Sex und Gewalt, das in Sachen Provokation seinem knapp 1400 Seiten starken Bestseller in nichts nachsteht. Auf so feinsinnige wie perfide Weise spielt er mit Lust und Grauen, verschiebt von Satz zu Satz die moralischen Überzeugungen seines Publikums, bis das gesamte Gefüge ins Wanken gerät – das des Textes und das unserer Wahrnehmung.
Ein Feuilleton-Aufreger wird „Eine alte Geschichte“ jedoch mit ziemlicher Sicherheit trotzdem nicht. Denn Littell entfernt sich in diesem surrealen Kaleidoskop so weit von der Realität, dass man ihm beim besten Willen keine Geschichtsverfälschung oder Verklärung realer Verbrechen vorwerfen kann. Zugleich macht genau dieses kontinuierliche Zittern am Scheitelpunkt zwischen Realität, Traum und Fantasie seinen jüngsten Wurf umso faszinierender und lesenswerter.
Statt in den Kopf eines SS-Obersturmführers zwingt uns Littell diesmal in die Innensicht eines namenlosen Ich-Erzählers, der durch einen schier endlosen Loop aus Traumsequenzen getrieben wird. Mal sind es lustvoll-erotische Szenen, mal brutale Alpträume – und nicht selten kippt unversehens das eine ins andere. Der Ich-Erzähler ist weder gut noch böse; in seinen ständig changierenden Welten gibt es keine Moral. Wieder einmal beweist der Autor seine Meisterschaft darin, diese von jeder Wertung und jeder Selbstreflektion befreite Beobachterrolle – eine Mischung aus naiv-kindlicher Neugier und hedonistisch-animalischer Gier – konsequent, um nicht zu sagen: gnadenlos, durchzuziehen. Stilistisch und atmosphärisch erinnert der neue Text an Littells Prosaminiatur „In Stücken“ (2013): Umstandslos werden wir in ein Vexierspiel aus vermeintlich unzusammenhängenden Szenen hineingestoßen, die erst im Laufe des Lesens eine traumlogische Verbundenheit offenbaren.
„Eine alte Geschichte“ beginnt und endet – ganz Geburtsmetapher – im Element Wasser. Aus diesem taucht der Erzähler auf, im wahrsten Sinne des Wortes, und findet sich wieder in einem öffentlichen Schwimmbad. So weit, so alltäglich. Doch gerät er direkt aus der Umkleidekabine hinein in einen schummrigen Gang, durch den er sich, obwohl er kaum etwas sehen kann, zügig und sicher voran bewegt „wie eine gut geölte Maschine“. Dieses graue, eintönige Zwischenreich wird zum Refrain; es gibt darin nichts außer den periodisch auftauchenden Türen, die den Protagonisten in die verschiedensten Szenarien hinein katapultieren.
Das erste Szenario indes wirkt so gewöhnlich, dass man geneigt ist, es für die Alltagsrealität des Erzählers zu halten: Er betritt einen „vertrauten Garten“, dann ein Einfamilienhaus. In einem Zimmer spielt ein Kind mit Bleisoldaten, in der Küche steht „die Frau“, die ihm erzählt, eine Nachbarin hätte sich über die Überlastung der elektrischen Leitungen beschwert. Sie bittet ihn, das Kind zu baden, später isst die Familie gebratene Langustinen, noch später haben der Protagonist und die Frau Sex auf einer grün-golden bestickten Decke. Merkwürdig inmitten all dieser Banalitäten erscheinen einzig die prototypischen Bezeichnungen „die Frau“ und „das Kind“, die unterschwellig das Gefühl verstärken, der Erzähler sei wie zufällig in dieses Leben hineingeraten. Und tatsächlich wird er schon bald erneut in den grauen Gang hinein gesogen und nach einem zeitlosen Lauf in einem anderen, leicht verschobenen Raum wieder ausgespuckt.
Was sich nun entspinnt, ist eine labyrinthische Reise hinein in die Abgründe der menschlichen Psyche, in deren Untiefen Littell unsere gut verdrängten libidinösen und destruktiven Instinkte aus dem Schatten zerrt und zu einem wilden Tanz verführt. Dabei erinnern seine Gestaltungsmittel – visuelle Opulenz kontrastiert durch eine beinahe klinisch-nüchterne Sprache – im besten Sinne an die Bilderwelten eines David Lynch, Francis Bacon oder William S. Burroughs.
In einem spärlich eingerichteten Hotelzimmer mit „blutfarbenem Teppich“ begegnet der Erzähler einer geschlechtlich uneindeutigen Gestalt mit vernarbter Haut und einem künstlichen Phallus. Es folgen Sexszenen, die man für reine Fantasien halten mag – doch kennen wir die mit grünen Grashalmen bestickte Tagesdecke nicht von irgendwoher? Ein allmähliches Wiedererkennen dämmert dem Leser, nicht aber dem Erzähler, der sich bereits zum nächsten Raum weiterbewegt. Dort erwarten ihn eine ausschweifende Poolparty, phallische Mädchen und verführerische Männer in Frauenkleidern – und eine rotblonde Frau mit zerzaustem Knoten, die wie Narziss am Pool kniend ihr Spiegelbild betrachtet. Unschwer erkennt der Leser in ihr die Frau aus der ersten Szene, für den Erzähler jedoch ist sie nichts als eine schöne Fremde, die es zu verführen gilt. Er trägt nun selbst Frauenkleider; Identität und Begehren verschmelzen. Die geschlechtliche Wandlungsfähigkeit – die eigene wie auch die derer, die ihn umgeben – bereitet ihm ein ungeahntes Vergnügen. Berauscht gibt er sich dem orgiastischen Durcheinander hin, der „zügellosen Utopie der Körper“ auf dem Diwan – über die gebreitet, wie ein Wink aus einer anderen Welt, die grün-golden bestickte Decke liegt.
Es empfiehlt sich, „Eine alte Geschichte“ mindestens zwei Mal zu lesen. Denn die Entscheidung, ob man sich im ekstatischen Rausch des Erzählers vorwärts treiben lassen oder aber detektivisch immer wieder zurückblättern möchte, um den ein oder anderen Hinweis auf das Konstruktionsmuster des Textes aufzuspüren, fällt wahrlich nicht leicht. Klar ist jedenfalls: Nicht nur die grün-goldene Decke taucht als wiederkehrendes Element in fast allen (Fantasie-)Räumen auf, sondern auch diverse andere scheinbar unwichtige Details, wie die gebratenen Langusten, Badewannenszenen und Stromausfälle. Erst allmählich begreift man, dass sich im Kopf des Protagonisten eine obsessive Wiederholung und Verfremdung bestimmter Verstörungsmomente der ersten Szene abspielt – ähnlich wie in unseren Träumen Tagesreste aufgegriffen und unverarbeitete Ereignisse weitergesponnen werden. Blättern wir zurück, lässt sich beispielsweise ein leicht zu überlesender Moment ausmachen, in dem der Erzähler nackt vorm Spiegel steht und ihm sein Körper beinahe feminin erscheint. Welche Lust, aber auch welche Ängste diese flüchtige Empfindung hervorgerufen haben muss, erfahren wir erst in den folgenden, ins Extrem getriebenen Fantasien. Irritiert hat den Erzähler offenbar auch das fortwährende Kriegsspiel des Kindes – kein Wunder, dass die in der ersten Szene mit Bleisoldaten nachgestellte „Orgie von Schüssen und Explosionen“ in seinem Unterbewusstsein weiterarbeitet und sich irgendwann in ungeheuerlicher Brutalität Bahn brechen wird.
So gerät der zweite Teil des Buches ungleich düsterer. Immer häufiger schlägt die Lust um in Ekel, die Orgie in Abstumpfung, der Sex in Gewalt. War der „blutfarbene Teppich“ anfangs nur ein kurzes Omen, wird er sich gegen Ende tatsächlich mit Blut tränken. Erschien dem Erzähler das Fließen der Geschlechter anfangs noch lustvoll, so nimmt er die changierenden Körper um ihn her gegen Ende nur mehr verwirrt und angstvoll wahr als „eine Folge erstarrter Rücken, Schenkel, weißer Ärsche“. Mehr und mehr ergreift diese Fragmentierung auch von ihm selbst Besitz. Vor dem Spiegel stehend fährt er über seine nackte Haut, „ohne ein Gefühl für diesen Körper zu bekommen, der sich auflöste und mir entzog.“ Die ekstatische Zersplitterung im sexuellen Akt wird nun nicht mehr als lustvoll wahrgenommen, stattdessen evoziert die „dunklere, unbestimmte Masse“, die er zwischen den kopulierenden Körpern wahrnimmt, einen subtilen Horror. Im finalen Akt erwachen schließlich die Bleisoldaten zum Leben, und der Erzähler selbst wird zum kaltblütigen Täter.
Vor der totalen Selbstzerstörung kann ihn nur mehr der Sprung ins kalte, klare Wasser des Anfangs bewahren. Doch ist er wirklich gerettet? Einen Wimpernschlag lang fällt sein Blick in den „langen Wandspiegel, in denen ich Bruchstücke meines Körpers sah, flüchtig und unzusammenhängend“. Und wer weiß – vielleicht war genau dieser Anblick ja der Auslöser für den labyrinthischen Alptraum-Loop, und der Zyklus wird sich, wie in einander gegenüber gestellten Spiegeln, bis ins Unendliche wiederholen.
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