Anzeige
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
x
Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Der mit Honig umhüllte Stachel

Hamburg

Der fünfundsechzigjährige Karikaturist Javier Mallarino ist in Bogotá auf dem Weg zum Teatro Colón, wo er im Rahmen einer feierlichen Veranstaltung für sein Lebenswerk geehrt werden soll. Als Höhepunkt dieser Feier überreicht ihm eine Ministerin sogar das erste Exemplar einer Briefmarke,

damit fortan in unseren Städten auch die frankierten Briefe eine Hommage auf Ihr Leben und Werk sind.

Am Ende des Romans, das nur einen Tag später ist, wird er genau dieses Lebenswerk in Frage stellen und sich sicher sein, dass er auf seine Feinde der letzten vierzig Jahre treffen würde. Dazwischen liegen Erinnerungen an seinen Werdegang und an seine gescheiterte Ehe mit Magdalena. Vor allem aber begegnet ihm eine Frau, Samanta Leal, die ihn zwingt, sich mit einem Ereignis vor achtundzwanzig Jahren und einer darauffolgenden Karikatur mit katastrophalen Folgen auseinanderzusetzten. Diese beiden Tage bilden den Rahmen, der immer wieder durch die Erinnerungen an dieses Ereignis unterbrochen wird.

Im Rückblick lernen wir einen Mallarino kennen, der als Zeichner einer renommierten Tageszeitung Karriere macht und bei seinen Karikaturen, nie Rücksicht auf Proteste und auf persönliche Befindlichkeiten nimmt. Einwände Magdalenas, es gehe doch um Freunde, die sie inzwischen meiden würden, schlimmer, es gehe um die Bedrohung der Familie, lässt er nicht gelten.

Meine Reputation steht auf dem Spiel, dachte er, ohne es auszusprechen. Und die Opfer hatten sich gelohnt: Da war die Reputation, die gute Reputation, da war das Prestige. Mallarino hatte es sich redlich verdient; er nahm nie ein Blatt vor den Mund.

Um Reputation geht es allerdings auch dem konservativen Politiker Adolfo Cuéllar, der uneingeladen zu einem Fest in Mallarinos Haus kommt und ihn anfleht, ihn nicht mehr zu zeichnen. Er sei nicht die Person, die Mallarino in seinen Cartoons zeigen würde und Mallarino möge doch wenigstens Rücksicht auf Cuéllars Frau und seine beiden Söhne nehmen, vor denen er die Zeichnungen verbergen würde. Je mehr er sich erniedrigt, umso mehr zeigt ihm Mallarino seine Verachtung. Unglücklicherweise haben sich auf dem Fest Mallarinos siebenjährige Tochter Beatriz und ihre gleichaltrige Freundin Samanta so stark betrunken, dass sie bewusstlos im Schlafzimmer liegen. Was dann passiert, bleibt unklar, jedenfalls verdächtigt Mallarino Cuéllar, Samanta missbraucht zu haben und fertigt am nächsten Tag eine Zeichnung an, die diesen Vorwurf in einer unbestimmten Art andeutet.

Der Abgeordnete Adolfo Cuéllar: »Lasst die Mädchen zu mir kommen.«

Mallarino ist durchaus bewusst, was er mit der Zeichnung bewirkt. Behauptet er an anderer Stelle noch, eine Karikatur sei ein mit Honig umhüllter Stachel, sie würde die Welt nicht erfinden, sondern nur darstellen, sieht er jetzt genauer, was er damit bewirken kann.

Was die Zeichnung andeutete: Sie behauptete nichts und klagte nicht an, dachte Mallarino, sie war wie ein Flüstern auf einer Versammlung, ein Blick aus dem Augenwinkel, ein Finger, der sich im privaten Kreis hebt, ohne dass die Öffentlichkeit es merkt. Karikaturen besaßen besondere chemische Eigenschaften. Mallarino wurde sich nach und nach bewusst, dass die Gegenwehr, ob von Cuéllar selbst oder von Seiten eines anderen, ihn noch tiefer in Verruf bringen würde, als bestünde die wahre Schande darin, die Karikatur überhaupt zu erwähnen.

Für Cuéllar hat das Flüstern weitreichende Folgen. Seine Frau verlässt ihn, er muss von seinem Amt zurücktreten, verzweifelt über den unwiederbringlichen Verlust seiner Reputation, bis er sich schließlich umbringt. Im Spanischen verweist der Titel übrigens im Plural auf die zweifache Reputation bzw. deren Verlust: Las reputaciones.

Eine Karikatur mit Folgen. Als Journalisten Mallarino fragen, ob er sich für Cuéllars Tod in irgendeiner Weise verantwortlich fühle, hat er nicht etwa ein schlechtes Gewissen, sondern ist sogar stolz, in diesem Zusammenhang befragt zu werden. Das Fragwürdige der Haltung Mallarinos lässt Juan Gabriel Vásquez durch Mallarinos Frau Magdalena ausdrücken. Sie, die ihn schon lange nicht mehr bewundert und ihm seinen Stolz und seine Rücksichtslosigkeit vorhält, trennt sich nun endgültig von ihm.

Und dann kam das Schlimmste: Ich merkte, dass du stolz warst. Du warst stolz auf die Frage, die sie dir gestellt haben, Javier, und wer weiß, vielleicht auf noch etwas anderes.

Neben dem unbeabsichtigten Eigenleben, das eine Karikatur führen kann, zeigt Vásquez auch die Folgen, die sie für den Zeichner haben kann. Mallarino wird, wie die erwähnte Ehrung zeigt, zwar als Institution verehrt, muss im Privatleben aber herbe Rückschläge einstecken. Weil er viele Feinde hat, in manchen Teilen Bogotás nicht mehr ausgeht, hat er sich außerhalb der Stadt in die Berge zurückgezogen. Magdalena hat ihn verlassen, der Kontakt zu seiner Tochter ist schwierig. Fast hat er sich mit diesem Leben abgefunden, als Samanta Leal ihn bittet, sich an diese eine Nacht zu erinnern, von der sie nichts weiß, die aber in ihrem Unterbewusstsein beklemmende Eingebungen hervorruft. Durch die Begegnung mit Samanta ist Mallarino plötzlich nicht mehr sicher, ob es so war, wie er es vor achtundzwanzig Jahren gesehen hatte.

Eben das, was man jetzt, da Rodrigo Valencia davon sprach – nicht wusste, war etwas, was man in der Vergangenheit gewusst hatte, etwas, worüber es früher einmal Gewissheit gegeben hatte, ja so gewiss war es gewesen, dass Mallarino eine Karikatur angefertigt hatte.

Es geht Juan Gabriel Vasquez also auch um die Frage, inwiefern man seinen Erinnerungen trauen kann und welche Bedeutung sie für einen haben. Eine ähnliche Frage hat ihn schon in seinem Roman Das Geräusch der Dinge beim Fallen beschäftigt. Darin schreibt er:

Ich weiß nicht, was uns das Erinnern nützt, welche Vorteile es uns bringt oder welchen Schaden, noch wie sehr das Erlebte sich beim Erinnern verändert, aber es ist mir ein Bedürfnis geworden, mich genau an Ricardo Laverde zu erinnern.

Javier Mallarino jedenfalls will sich erinnern. Auch auf die Gefahr hin, seine Reputation zu verlieren, will er wissen, ob er Cuéllar Unrecht getan hat, ob er nicht doch für dessen Tod mit verantwortlich ist. Noch ehe er mit Samanta Cuéllars Witwe besucht, um dies zu klären, beantwortet er für sich die Frage, ob er wieder diese Karikatur zeichnen würde, mit nein, weil er die Sinnlosigkeit seiner Arbeit erkennt.

Wozu war es gut, das Leben eines Mannes zu ruinieren, auch wenn der Mann den Ruin verdient hatte? Vierzig Jahre. Alle Welt hatte ihn in den letzten Stunden dazu beglückwünscht, und erst jetzt wurde Mallarino bewusst, dass seine Langlebigkeit keine Tugend, sondern eine Beleidigung war: Vierzig Jahre, und um ihn herum hatte sich nichts geändert.

Wie in Das Geräusch der Dinge beim Fallen ist es auch in diesem Roman ein zurückliegendes Ereignis, welches die Gegenwart des Protagonisten ins Wanken bringt. Vásquez verbindet die beiden Zeitebenen, indem die Gegenwart immer wieder mit der Vergangenheit unterlegt wird.

Natürlich denkt man bei der Handlung unwillkürlich an die Ereignisse von Charlie Hebdo. Dagegen sind die Bedrohungen, denen der Protagonist ausgesetzt ist, recht harmlos. Vásquez hat den Roman schon 2013 veröffentlicht, als niemand sich ein solches Attentat vorgestellt hat. Das ist allerdings auch nicht entscheidend. Denn Vásquez lässt seinen Protagonisten nicht an äußeren Ereignissen scheitern, sondern an sich selbst.
Juan Gabriel Vasquez ist ein kritischer Chronist seiner Heimat und zu Recht einer der wichtigsten Autoren Kolumbiens. Für den Roman Das Geräusch der Dinge beim Fallen wurde er mit dem renommierten Alfaguara-Literaturpreis und dem IMPAC Award ausgezeichnet.

Juan Gabriel Vásquez
Die Reputation
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Schöffling & Co
2016 · 192 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-89561-009-7

Fixpoetry 2016
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge