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Kritik

Ich ist eine andere

Hamburg

Unerbittlich zieht uns Julia Deck hinein in ihren schmalen, erstaunlichen Debütroman. Nicht nur in die karge, noch kaum eingerichtete Wohnung am Gare de l’Est, in der ihre Protagonistin, „Viviane Élisabeth Fauville“ – so der Titel des Buches – sich wiederfindet, sondern sogleich auch in die Mittäterschaft. Während Viviane ihre Tochter in den Armen wiegt, beschleicht sie eine düstere Ahnung. „Sie sind nicht ganz sicher, aber Sie haben das Gefühl, vor vier oder fünf Stunden etwas getan zu haben, was Sie nicht hätten tun sollen.“

Die direkte Anrede erzeugt einen unentrinnbaren Sog und gleichzeitig ein unwohles Winden. Außer der vagen Erinnerung an irgendeine schreckliche Tat wird einem auch noch ein zwölf Wochen altes Baby in die Arme gelegt! Man möchte dieser ungeheuerlichen Verantwortung entfliehen, aber – der Drang, weiterzulesen, ist stärker.

Und, was für ein Glück, bereits „am nächsten Morgen, Dienstag den 17. November, ist Ihr Gedächtnis wieder vollständig zurückgekehrt“.

Viviane Élisabeth Fauville ist 42 Jahre alt und arbeitet als Kommunikationsbeauftragte der Firma Bétons Biron. Zumindest bis zu ihrem Mutterschaftsurlaub. Ebenfalls bis vor kurzem war sie verheiratet mit Julien Antoine Hermant, der sie jedoch vor wenigen Wochen für eine andere verließ. Der Umzug ist vollbracht, die Scheidung im Gange.

Nach einem Zusammenbruch vor drei Jahren geht Viviane regelmäßig zu einem Psychoanalytiker, dem altväterlich-überheblichen Doktor Jacques Sergent, der Sätze gerne mit „Seien Sie so nett“ beginnt. „Er hat in Ihnen noch nie etwas anderes als eine Bourgeoise gesehen, eine blasse Karrieristin und gewöhnliche Neurotikerin, die sich mit weißen oder blauen Pillchen zähmen lässt.“ Seit geraumer Zeit hat sich in Viviane eine latente Wut angesichts dieser unnützen Behandlung angestaut. Gestern, also am 16. November, hat sie den Analytiker endlich umgebracht. Und zwar nicht bloß symbolisch, sondern ganz konkret, „mit einem Messer der Marke Henckels Zwilling, Serie Twin Profection, Modell Santoku“.

So viel Präzision erstickt jeden Zweifel im Keim. Viviane erinnert sich nun an jede Einzelheit – wie sie nach Hause kaum, die Tatwaffe gewissenhaft reinigte, während das Fläschchen fürs Baby warm wurde. Na gut, denkt man sich als LeserIn, mit Resignation und einem leisen Schaudern, habe ich diesen Mord also tatsächlich begangen.

Doch kaum hat die Autorin ihre Leserschaft soweit, schleudert sie einen aus der Komplizenschaft auch schon wieder heraus. Unvermittelt wechselt sie in die dritte Person, schafft ein Stück Distanz. Viviane wird von der Polizei vorgeladen, verstrickt sich in Widersprüche, gibt ihre seit acht Jahren tote Mutter als Alibi an. Trotzdem lässt man sie wieder gehen.

Was sich nun entspinnt, ist eine faszinierende Mischung aus Kriminalgeschichte, Sozialstudie und Psychogramm. Von Ängsten getrieben, macht sich Viviane auf eigene Faust an die Ermittlungen. Wie in Trance legt sie ihr Baby in einem Hotelzimmer ab, flößt ihm Beruhigungsmittel ein und beginnt, die Fährte der übrigen Verdächtigen zu verfolgen. Sie hängt sich an die hochschwangere Geliebte des Ermordeten, stalkt dessen Witwe, macht einen weiteren Patienten ausfindig, der ihr aufgrund seiner Vorstrafen verdächtig erscheint.

Von Kapitel zu Kapitel verschiebt sich das Geschehen. Was man bislang für wahr gehalten hat, löst sich auf, ordnet sich neu. Nur um, sobald man meint, nun die Realität zu kennen, wieder zu zerfallen. Schnell wird klar, dass dies kein gewöhnlicher Krimi, sondern vielmehr das Porträt einer Persönlichkeitsspaltung ist.

Munter springt die Erzählperspektive von „Sie“ zu „sie“, von „ich“ zu „man“ und wieder zurück. Meist ist von „Viviane“ die Rede; Fremden jedoch stellt sich die Protagonistin als „Élisabeth“ vor. Alle Sicherheiten schwimmen davon, und nur das Baby, dessen Augen wortlos aufsaugen, was um es her geschieht, gibt ihr eine Art Halt. „Da hat man dieses Kind auf dem Arm, von dem man sich fragt, wie es dort hingekommen ist“, heißt es an einer Stelle, und an einer anderen: „Wir fragen uns, woher dieses Wesen kommt, das mehr weiß über uns, als wir je ahnen werden.“

So etwas wie „Mutterliebe“ ist in diesen Zeilen kaum zu spüren, wohl aber die Funktion, die dieses Baby so zuverlässig erfüllt: sich des eigenen Körpers zu  versichern, des eigenen Daseins, und nicht zuletzt: der Realität.

In allen Lebensbereichen fühlt Viviane sich gehetzt, stets dem Abgrund nah. Nun auch noch an ihrem Arbeitsplatz, wo ihr durch die Blume zu verstehen gegeben wird, dass man gedenkt, ihre Mutterschaftsvertretung weiter zu beschäftigen. „Du weißt, dass du nicht mehr zwanzig bist und die jungen Mädchen im Hinterhalt liegen“, denkt sich Viviane dazu im nüchtern-zynischen Ton einer Frauenzeitschrift.

„Viviane Élisabeth Fauville“ ist auch das Porträt einer Frau, die sich, nun da sie ihre Blüte knapp überschritten hat, auf allen Ebenen ausgebootet fühlt – im Bett und auf der Arbeit durch eine Jüngere ersetzt, nirgends wirklich ernst genommen, nicht einmal von ihrem Analytiker, geschweige denn von der Polizei. Und selbst das eigene Empfinden, die eigene Erinnerung erweist sich zunehmend als trügerisch. Denn natürlich lässt die Autorin es sich nicht nehmen, am Ende nochmal alles umzukehren, alle Verlässlichkeiten auf den Kopf zu stellen.

Decks Sprache – kongenial übersetzt von Anne Weber – bleibt selbst in turbulenten Momenten klar und hochkonzentriert. En passant liefern die Stadtbeschreibungen ein Bild leiser Melancholie: Die ein- und ausfahrenden Züge am Gare de l’Est, die Katzen, die am Fenster sitzen und um Einlass betteln, das hohle Klappern der Mülltonnen. Gleichzeitig durchzieht das Buch eine subtile Ironie, ein akkurater, journalistisch geschärfter Blick auf die Gesellschaft, die Klassendünkel, die tristen Routinen der Vorstädter.

Mit „Viviane Élisabeth Fauville“ hat Julia Deck ein beeindruckendes Debüt vorgelegt, das auf 144 Seiten Krimi, Thriller, Psychogramm und Paris-Porträt  vereint.

Julia Deck
Viviane Élisabeth Fauville
Übersetzung:
Anne Weber
Wagenbach
2013 · 144 Seiten · 16,90 Euro
ISBN:
978-3-8031-3251-2

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