Das Flittchen Schneewittchen
Ein Geschenk zum 200! Ein schön verpacktes Geschenk, Hardcover mit bezogenem Buchdeckel, weinrotes Lesebändchen, grünleinener Buchrücken, mit liebevoll gestalteten Anfangsvignetten von Kat Menschik, in großer Schrift, Großmutter könnte zur Not auch ohne Brille daraus lesen. Das Geschenk zum 200. Jahrestag des Erscheinens der Kinder- und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm am 20. Dezember 1812. „Grrrimm“, heißt es auch, das Geschenk, beziehungsreich, mit lautmalendem Grollen ankündend, dass es darin nicht so schön zugehen soll, wie das Buch aufgemacht ist. So will es die Schöpferin der Varianten auf einige der berühmten Grimmschen Märchen, Karen Duve.
Die Märchen verlockten über die beiden Jahrhunderte seit ihrer Buchwerdung viele Schriftsteller, sie neu zu schreiben. Sie zu parodieren. Ringelnatz lässt Kuddeldaddeldu erzählen, dass Rotkäppchen ca. zehn Liter alkoholische Getränke zur Großmutter schleppt. Roald Dahls Rotkäppchen ist scharf auf den Pelz des Wolfs, den sie am Ende um die Schultern trägt. Otto Walkes Rotkäppchen zieht den Wolf am Schwanz aus dem Wasser, worauf der, in einen Prinzen verwandelt, verschmitzt anmerkt: Jetzt kannst du aber loslassen. Hier soll gleich der Schwung genutzt werden, um zu sagen: die Parodien sind die originellste Weise, den unverwüstlichen Märchen beizukommen.
Duve schreibt Adaptionen der Märchen. Sie stellt Fragen, die ein Kind nie stellen würde, wie die, warum nicht einer der Zwerge scharf auf Schneewittchen ist. Der Zwerg erzählt selbst, wie Schneewittchen ihn abblitzen lässt, er aber sie zwingt zu lügen, weil sonst ihre Position in dem sieben-Männer-Haushalt gefährdet wäre. Als der Prinz die Scheintote und dann durch eine Ungeschicklichkeit wieder lebendig Gewordene heiratet, hält das Glück nicht lange. Scheidung – und aus Schneewittchen wird ein Flittchen. Der Zwerg lässt sie suchen, damit sie ins „Zwergenidyll“, so der Titel dieser Adaption, zurückkehrt, wo der erzählende Zwerg aber vorher klarstellen will, „was wir erwarten.“ Eine derbe Sexualisierung des durch unzählige Verfilmungen verkitschten Märchens.
Das älteste der Grimmschen Märchen „Froschkönig“ setzt Duve ins Gangstermilieu, der Frosch ist ein Polizist, der Undercover den Gangstervater überführt. Nicht die „Froschbraut“, so der Duve`sche Titel wirft den Frosch an die Wand, sondern der Vater selbst. Wenn man das dem Märchen zugrunde liegende Erlösungsmotiv mit adaptiert, könnte man schließen, der Gangster hat sich selbst aus seinem Gangstermilieu erlöst. Muss man aber nicht.
In der Titelgeschichte „Grrrimm“ sind zwei Märchen verwoben, „Rotkäppchen“ und das „Märchen von einem der auszog das Fürchten zu lernen“. Handlungsort ist ein Bergdorf in einer pseudoslawischen EU-Region, die aber keine EU-Gelder mehr erhält. Weshalb der nicht mehr abgeholte Müll an den Straßenrändern die Wölfe anlockt. Das Mädchen mit der roten Kappe heißt Elsie und wird von ihren vielen computerspielenden Geschwistern gemobbt. Mutter Alkoholikerin, Vater wird von seiner Schwiegermutter gebissen, die ein Werwolf ist. Elsie muss zur (Werwolf)Großmutter, Aspirin für den Vater holen. Begleitet wird sie von dem durch eine Explosion völlig verunstalteten Stepan, der bei dem Unfall nicht nur sein Auge, sondern auch seine Angst verloren hat. Seine Therapeutin: „Ziehen Sie los und lernen Sie sich zu fürchten!“
Um es kurz zu machen, er lernt es nicht, trotz Begegnungen mit halbverwesten Wiedergängern, Kegeln mit Totenköpfen und Oberschenkelknochen usw. Nicht einmal, als Rotkäppchen-Elsie ihm gesteht, von der Werwolf-Großmutter gebissen zu sein. Dann, meint er, nehmen wir eben getrennte Schlafzimmer.
Nach einem tieferen Sinn kann man lange suchen. Warum es soviele pseudoslawische Namen gibt, möglicherweise eine Anspielung auf Litauen, wo die Werwölfe herkommen sollen? Man kann sich das Suchen aber auch sparen.
Es ist der Spaß am Nonsens. Splatter, wie es in einer der vielen begeisterten Rezensionen heißt. Die Originale seien dagegen „literarischer Kuschelrock“. Dass der Galiani-Verlag damit Duves Grrrimm-Web-Seite übertitelt, zeigt, dass die Macher die Originale nicht gelesen haben. In den „kuschligen“ Märchen wird die Hexe in den Ofen geschoben und gebraten (Hänsel und Gretel), da werden Kinder in Stücke gehackt, gekocht und gegessen (Von dem Machandelboom), da will der Vater die Tochter heiraten (Allerleirau). Schon durch die Lakonie der Kürze: Grimm ist grimmiger als „Grrrimm“.
Unverzeihlich ist, was Duve mit dem Märchen „Bruder Lustig“ macht. Sie erzählt es einfach nach, es fehlte noch, dass sie nun das Urheberrecht auf das Original erhebt, denn sie hat nicht einmal den Titel geändert. Aus Petrus bei Grimm zaubert Duve den Herrn Jesus, aus dem Herzen, das der Bruder Lustig heimlich verspeist, wird bei Duve eine Leber und aus dem Ranzen ein Jutebeutel.
Um zum schönen Geschenk zurück zu kommen. Eine Idee vermag den ergrimmten Leser versöhnlich zu stimmen. In der Dornröschen-Adaption, „Der geduldige Prinz“, ist es der modernen Märchenerzählerin gelungen, das Märchenmotiv zu erweitern und auf eine heutige Alltagsebene auszuweiten. Der Prinz leidet unter der Gabe seiner Fee, geduldig sein zu müssen, also tanzt er nicht mit Florentine, wie Dornröschen hier heißt und er gibt sich alle Mühe, jung zu bleiben, als sie in den 100jährigen Schlaf verfällt. Geduldig schafft er es tatsächlich mit Diäten und äußerst disziplinierter Lebensweise sagenhafte 115 Jahre alt zu werden. Er kann sogar noch selbst laufen, wenn auch nicht besonders schnell. Nun darf er los, seine Angebetete erlösen. Doch sie ist 15 geblieben …
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