Fiktion als Fugenelement
Auf der Suche nach altgermanischen Wurzeln rief Heinrich Himmler 1935 das Unternehmen Hexen-Sonderauftrag ins Leben. Es diente der Propaganda und sollte die jüdische Verschwörung anhand von Hexenprozessen beweisen. Unter anderem stand eine Gruppe von Frauen aus den Weißen Karpaten, ohne es zu wissen, unter dem Schutz der Nazis. Die „Göttinnen“ nannten die Einheimischen sie, die sie um Rat aufsuchten.
Dora, die Protagonistin von Kateřina Tučkovás Faktenroman „Das Vermächtnis der Göttinnen“, stammt aus einer Familie solcher weisen Frauen. Sie wächst mit dem behinderten Bruder bei ihrer Tante auf und hilft ihr bei der Tätigkeit als weise Frau. Sie ist 15 Jahre alt, als die Tante in den 1970er Jahren in die Psychiatrie eingewiesen wird. Später wird sie als Ethnologin die Geschichte der Göttinnen untersuchen, aber erst nach der Wende findet sie Unterlagen, die das tragische Schicksal der Tante und ihrer eigenen Familiengeschichte erklären.
Kateřina Tučková beginnt mit einem Mord. Doras ständig betrunkener Vater hat die Mutter, ebenfalls eine Göttin, erschlagen. Die Kinder kommen zur Tante. Surmena ist eine schrullige Person Anfang 50 und sie hinkt. Sie, die anderen Glieder wieder einrenkt, kann sich selbst nicht heilen. Ihre Nichte macht sie zu ihrer Hilfe, zum sogenannten Engel. Dora wartet an der Bushaltestelle des Ortes und sieht schon an dem Blick der Ankommenden, ob sie auf der Suche nach einer Göttin sind. Sie begleitet die Hilfesuchenden zu dem in den Bergen liegenden Haus der Göttin und fragt sie vorsichtig aus. Dann rennt sie zu ihrer Tante, um ihr mitzuteilen, was sie in Erfahrung bringen konnte. So sind die Hilfesuchenden beeindruckt, wenn Surmena ihnen gleich auf den Kopf zusagen kann, was sie für ein Problem haben. Krankheiten kann sie heilen, Liebeszauber bereiten, die Zukunft aus Wachs lesen, sogar das Wetter beeinflussen. Die Entlohnung ist nicht groß, aber Surmena bringt so die Kinder ihrer Schwester über die Runden. Dies wird auf den ersten Seiten erzählt. Dann beginnt das Puzzlespiel einer Faktenrecherche, das die Geduld des Lesers erfordert. Denn er muss Dora nun bei ihrer Recherche folgen. Dokument reiht sich an Dokument. Zunächst die Geschichte der Psychiatrieeinweisung anhand von Berichten der örtlichen Staatssicherheit, die, das soll hier gleich gesagt werden, den Anschein von Originalen erwecken, aber fiktiv sind (ein Verfahren, das zur Zeit öfter angewendet wird, zum Beispiel bei Angela Steideles hochgelobten und preisgekrönten Roman „Rosenstengel“). Im Weiteren geht Dora zeitlich immer weiter zurück und findet in Himmlers Hexenkartothek, die sich tatsächlich heute in Poznań befindet, auch Dokumente zu ihrer Familie. Der Verdacht der Kollaboration mit den Nazis bestätigt sich nicht. Doch es findet sich der Hinweis auf Schutz durch Himmlers „Forscher“, die persönlichen Kontakt mit den Frauen pflegen. Sehr persönlich, einer zeugt mit einer der Göttinnen aus Doras Familie ein Kind. Ganz offensichtlich ein erfundenes Detail – die Fiktion als Fugenelement zwischen den Fakten.
Das Buch ist in Tschechien ein Bestseller. Seitdem ist die Region in den Weißen Karpaten, die Tučková beschreibt, ein Touristenmagnet. Was ist das Geheimnis? Wohl die gut kalkulierte Mischung aus der Suche nach der Identität – hier der Region – und aus einem kleinen Grusel vor den Göttinnen, weisen Frauen, die Nähe zu Hexen, da wieder die Melange aus Mythos und Realität und nicht zuletzt die Gier des Lesers nach einer „wahren Geschichte“, wie sie durch die Dokumente suggeriert wird.
Dass die Autorin akribisch recherchiert hat, steht außer Zweifel und wird in einer Anmerkung auch belegt. Dass die Fiktionalisierung der Fakten mit gleichzeitiger „Dokumentenerzeugung“ eine Wahnsinnsarbeit ist, die hohen Respekt erheischt, steht außer Frage. Zu fragen wäre, ob die Fiktion nicht manches Klischee erzeugt. Die Beschreibung von Doras Kinderheimaufenthalt beispielsweise, wo sie nur gequält und gedemütigt wird, sowohl von den Mädchen, als auch ganz besonders von sämtlichen Erzieherinnen. Niemand ist da, zu dem sie Nähe hat, niemand nimmt sich ihrer auch nur ansatzweise an. Das zieht sich durch ihr ganzes Leben. Sie kann keinen Kontakt aufbauen, Männer durchqueren ihr Bett, ohne etwas anderes als ihren Samen zu hinterlassen. Es gibt eine Beziehung zu einer Frau ihres Heimatortes, von der behauptet wird, sie bedeute Dora viel, aber das ist für den Leser nicht nachvollziehbar. Die Geliebte bringt am Schluss des Romans, so wird es nahegelegt, Dora um. Warum? Es reicht nicht, zu behaupten über der Familie läge ein Fluch und nun hat der Fluch eben Dora erwischt. Dann wäre das, was über 400 Seiten kunstvoll aufgebaut wird – Dora, die sich trotz familienbedingter Tradition der Göttinnengabe der Wissenschaft zuwendet, die mit vielen Dokumenten den Familien“fluch“ aufklärt – zunichte gemacht.
Eine spannende Geschichte, eine spannende Konstruktion, aber das Spiel aus Fakten und Fiktion ist nicht ganz aufgegangen.
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