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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Liebe im Quantenmeer

Hamburg

Sie heißen Jan und Marie, begegnen sich zum ersten Mal in der Unibibliothek, später auf einer Party, irgendwann küssen sie sich und werden ein Paar. Eine Liebesgeschichte, wie sie tagtäglich in jeder beliebigen Stadt ihren Lauf nehmen könnte.

„Das Fremde Meer“, Katharina Hartwells beinahe 600 Seiten starker Debütroman, beginnt harmlos, fast ein bisschen beliebig. Wohin soll es gehen mit dem spröden, kontaktarmen Mädchen und dem schmalen, blassen Jungen, der mehr an einen Vogel als an einen Menschen erinnert? Außer durch die Umkehrung traditioneller Geschlechterrollen – es ist Marie, die sich von Anfang an als Jans Beschützerin sieht – heben sich die beiden einzig durch die Überbetonung ihrer Andersartigkeit von ihren AltersgenossInnen ab. In Wahrheit jedoch tun sie so ziemlich dasselbe wie alle anderen auch: Marie sitzt den ganzen Tag in der Unibibliothek und versucht ihre Promotion in Kulturwissenschaften voranzubringen, spielt tatsächlich aber sehr viel FreeCell. Jan studiert Fotografie an der Kunsthochschule, arbeitet an einem Projekt über das Haus seiner Großeltern und hängt ansonsten mit seinen Hipster-Freunden ab. Maries Schwermut, ihre Überempfindlichkeiten und leichte Sozialneurosen wirken eher wie Überbleibsel einer verlängerten Pubertät denn wie echte Distinktionsmerkmale.

Doch dann ist es jäh vorbei mit der linearen Erzählstruktur. Die Geschichte von Jan und Marie bricht ab, und Hartwell schwenkt um zu einem Setting, das in seiner Düsternis und Aufhebung physikalischer Gesetze an ein Science-Fiction-Computerspiel erinnert. Wir befinden uns in der „Wechselstadt“, in der zunächst einzelne Häuser, später ganze Straßenzüge umherwandern. Von den Protagonisten sind einzig die Initialen erhalten geblieben. Nun ist es Moira, die den strahlenkranken Jonas zur Flucht aus der zerfallenden Stadt überredet. Ob die Flucht glückt, bleibt offen – denn schon zieht uns Hartwell hinein ins nächste Szenario: die Pariser Salpêtrière, im 19. Jahrhundert eine der bekanntesten psychiatrischen Anstalten Europas. Hier rettet eine angebliche „Hysterikerin“ ihren Mitpatienten vor einem unheimlichen Arzt, der sein Gesicht hinter einer Maske versteckt.

Zwischendurch gibt es wieder ein Stück Rahmenhandlung, in dem Marie von ihrer und Jans Kindheit, von abwesenden Vätern, überforderten Müttern und verunglückten Cafébesuchen erzählt. Doch nun entfaltet auch diese eher unspektakuläre Geschichte ihre Sogwirkung. Denn wir wissen: Es gibt nicht nur Jan und Marie, es gibt auch Moira und Jonas, Miranda und Julian, Mare und Jasper, Muriel und Jonathan. Etwas Dunkles, Überzeitliches durchzieht die zarte Annäherung der beiden ungelenken Twenty-Somethings. Etwas ist da an ihrer Liebe, das sie aus der Zeit hinauskatapultiert, das sie größer macht als sie sind, nicht als Menschen, sondern in ihrer Funktion als Paar.

„Warte, bis sich eine Tür öffnet, jemand den Raum betritt, jemand deinen Namen sagt, jemand durch die Fluten, durch den Wald, durch die Straßen, durch die Nacht zu dir kommt und dich findet“, flüstert Marie in Gedanken ihrem Geliebten zu. Fast trotzig klingen diese großen Worte für große Gefühle, angesichts des Dogmas einer unterkühlten, verknappten Prosa, wie sie die meisten Schreibschulabsolventen derzeit abliefern. Auch Hartwell (Jahrgang 1984) studiert seit 2010 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Doch sie hat offensichtlich etwas anderes im Sinn mit ihrem ambitionierten Romandebüt. Mutig wirft sie sich der Kitsch- und Pathosgefahr entgegen, durchkreuzt Genregrenzen und arbeitet sich mit spürbarer Lust an den unterschiedlichsten Szenarien und Erzählstilen ab: Magischer Realismus trifft auf Märchenparodien, Science Fiction auf Fantasy. Mit „Das Fremde Meer“ beweist die junge Autorin nicht nur unglaublichen Fantasiereichtum und Stilsicherheit, sondern auch, dass da ein literarischer Stoff in ihr ist, der nach außen drängt, der erzählt werden muss.

Die Umsetzung überzeugt nicht immer – manchmal nerven unnatürlich gestelzte Dialoge, an einigen Stellen hätten mehr ironische Brechungen dem Roman gut getan. Auch das Obsessive, das Besitzdenken der romantischen Zweierbeziehung wird nur angedeutet und nicht wirklich in Frage gestellt. Doch wer will schon ein handwerklich perfektes Buch, das nichts wagt!

Erst nach und nach wird klar, wie lange Hartwell an der Dramaturgie gefeilt haben muss, bis sie dem vorangestellten Zitat des US-amerikanischen Quantenphysikers John Wheeler „Alles ist mit allem verbunden“ gerecht wurde. Wie halbdurchsichtige Folien legen sich die Texte in Schichten übereinander, verdichtet sich ihr Bedeutungsgehalt. Bereits in der ersten Geschichte träumt Moira vom Winterwald, vom Geisterschiff, vom Zirkus – Orte, die im Folgenden eine Rolle spielen werden. Die goldene Engelsstatue aus der Wechselstadt taucht einige hundert Seiten später im Bauch eines Geisterschiffs wieder auf. Maries imaginäre Kindheitsfreunde haben einen zweiten Auftritt als burleske Zirkusdirektoren. In einem Luftschiff hoch über den Wolken liest die Krankenschwester Milena ihrem Patienten Jakob aus einem Buch vor, das den Titel „Das Fremde Meer und andere Geschichten“ trägt.

Immer gibt es eine destruktive Kraft, die ihre Liebe zu verschlingen droht: einen Jäger ohne Herz, einen gesichtslosen Kapitän, ein Meeresungeheuer, das Menschen zu sich hinab zieht in die Tiefe. Überhaupt: Das Meer, das alles mit allem verbindet und zugleich alles zerstören kann. Irgendwo jenseits des Meeres gibt es eine passive, orientierungslose Figur, die an einem unwirtlichen Ort, irgendwo zwischen Leben und Tod, ausharrt und auf Rettung hofft. Das „Wir“ stellt den maximalen Sinnzusammenhang, der alle anderen Faktoren ausblendet. Im Märchen gibt es keine Abschlussarbeiten, die geschrieben, Handyrechnungen, die bezahlt, Eltern, die angerufen werden wollen. Es gibt keine Eifersucht, keine Freunde, keinen erdrückenden Alltag. Es gibt nur „J“ und „M“ und den Tod, der um jeden Preis aufgehalten werden muss. Das ist natürlich eine ziemlich realitätsferne Vorstellung von Romantik. Doch was zunächst arg nach Kitsch klingt, ergibt am Schluss einen bestürzenden Sinn. Denn – das erfährt man erst im letzten Kapitel – in der Rahmenhandlung ist ein Unglück geschehen, das mindestens so unfassbar ist wie der „schwarze Jäger“ oder das „Fremde Meer“. Marie muss nicht nur Jan retten, sondern auch sich selbst: Vor dem Verstummen, dem totalen Rückzug vor der Welt. Darum erzählt sie dieselbe Geschichte immer wieder, mit unterschiedlichen Schwerpunkten und leichten Variationen, aus unterschiedlichen Perspektiven, immer und immer wieder, um das Unbegreifliche greifbar zu machen.

 

Katharina Hartwell
Das Fremde Meer
Berlin Verlage
2013 · 576 Seiten · 22,99 Euro
ISBN:
9783827011374

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