Eroberungslust und Zerstörungswut
Aufgewachsen auf einer abgelegenen Farm im australischen Buschland, kennt Charles jeden Baum und jeden Strauch auf dem Weg zum Fluss, jede Spinne und jeden Vogel auf dem ausgedehnten Grundstück seiner Mutter. Andere Menschen sind ihm weitaus unheimlicher als die Natur, egal wie tückisch sich diese gebärdet.
Als er mit 15 auf ein renommiertes Internat geschickt wird, erlebt er einen veritablen Kulturschock. Das Schultor schluckt ihn „wie der blinde, offene Kiefer eines toten Hais, finster und leise kathedralisch“ – derart sinnlich und düster beschreibt Kenneth Mackenzie die Vertreibung seines adoleszenten Alter Ego aus dem Paradies seiner Kindheit. 1937 wurde „Was sie begehren“ in Australien zur literarischen Sensation. Sein Autor war gerade mal 23 Jahre alt. Den teilweise autobiografischen Roman begann er bereits als Jugendlicher, um seine eigenen Internatserlebnisse zu verarbeiten. Nun ist das Buch endlich auch auf Deutsch erschienen.
Der vaterlose Junge, der den Umgang mit Gleichaltrigen nicht gewohnt ist, erscheint den anderen Internatszöglingen zunächst fremd und rätselhaft. Seine Unnahbarkeit, seine feinen Gesichtszüge und seine „gefährliche, engelsgleiche Unschuld“ machen ihn zur Zielscheibe für Anfeindungen und Attacken. „Waschlappen“ und „Mädchen“ sind noch die nettesten Ausdrücke, die ihm entgegengeschleudert werden. Bereits am ersten Tag muss Charles erfahren, dass das Internat, die „Brutstätte der ehrbarsten Männer des Landes“, in Wahrheit der Nährboden für sadistische Initiationsriten, Mobbing und Missbrauch ist.
Mackenzie schildert das Leiden, die Einsamkeit und die Scham seines jugendlichen Protagonisten genauso intensiv und sinnlich wie zuvor dessen Unbeschwertheit und Lebenslust in der freien Natur. Die Missbrauchsszenen, in denen Charles im ersten Kontakt mit Gleichaltrigen sofort deren dunkelste Abgründe kennenlernt, sind in ihrem detaillierten Schwelgen in Charles‘ Schmerz nur schwer zu ertragen. „Die Grausamkeit in ihren gelösten Gesichtern verschlug Charles die Sprache. Noch nie zuvor hatte er andere Menschen aus solcher Nähe gesehen.“
Einzig in Penworth, einem jungen Lehrer für alte Sprachen, findet Charles einen Vertrauten. Doch die Freundschaft, die er Charles anbietet, ist durchzogen von einem Begehren nach dem Jungen, das den Lehrer innerlich zerreißt und das Charles nicht erwidert.
Charles lernt, sich zur Wehr zu setzen, entdeckt seinen Körper und seine erwachende Sexualität, schließt Freundschaften und verliebt sich zum ersten Mal. Ein klassischer Coming-of-Age-Roman, könnte man meinen – doch „Was sie begehren“ ist in vielem seiner Zeit weit voraus.
Mackenzie schildert die Pubertätswirren, die aufwallenden Gefühle des Jungen mit einer ungezügelten Emotionalität, die in der Gegenwartsliteratur kaum mehr zu finden ist. In den Ferien entflieht Charles der Enge des Internats: träge Nachmittage am Fluss werden mit allen Sinnen erfahrbar, die fiebrigen Träume des Pubertierenden im Schatten Chinesischer Bambusse, während Ameisen über seinen Rücken krabbeln. Zugleich hat ihn ein neuer Wissensdurst gepackt – das einzige, was ihn im Internat hält. Die brennende Ungeduld, einen neu erworbenen Shakespeare-Band zum ersten Mal aufzuschlagen, schildert Mackenzie mit den gleichen leidenschaftlichen Worten wie Charles‘ erste Verliebtheit in das Mädchen Margaret.
Mag uns Mackenzies Sprache auch heute allzu schwülstig und Metaphern überladen erscheinen – an farbenfroher Strahlkraft hat sie nichts eingebüßt. Nur selten – vor allem, wenn es um Charles‘ Sicht auf Margaret geht – schleichen sich Klischees ein, die aus einem Heftroman stammen könnten: „In ihrem Gesicht glühte mit bestechender Unschuld das zarte Feuer der Jugend, doch dahinter strahlte das Geheimnis ihres heranreifenden Körpers.“
Andere Passagen wiederum sind, bedenkt man die jungen Jahre des Autors bei der Entstehung des Manuskripts, erstaunlich komplex und reflektiert. Gerade Penworth, vielleicht die interessanteste Figur des Buches, wird in seinen widersprüchlichen Begierden als vielschichtige Persönlichkeit lebendig. Seine Schüler sieht er als „ungezogene, unbelehrbare junge Tiere“, zugleich jedoch zieht ihn dieses Animalische unwiderstehlich an. Geplagt von seinem Heimweh nach England, sucht er unbewusst nach Vertrauten, die seine Einsamkeit teilen. Mackenzie lässt offen, ob es pädophile Neigungen sind, die Penworth zu Charles hinziehen, oder „nur“ Phasen emotionaler Verwirrung in der Fremde.
Charles steht den Annäherungen und Zuneigungsbekundungen seines Lehrers gespalten gegenüber – er sonnt sich in dessen Freundschaft, doch sein Verständnis für körperliches Begehren entwickelt sich erst langsam. Auch haben ihn der harte Internatsdrill und die Kämpfe mit seinen Mitschülern dazu gebracht, alles „Feminine“ abzulehnen. Das Wort „Homosexualität“ ist ihm zwar unbekannt, doch verspürt er eine instinktive Abneigung gegen die Berührungen eines anderen Mannes. Inwieweit die unausgesprochene Homophobie des Internatsumfelds dabei eine Rolle spielt, lässt Mackenzie leider unreflektiert, was sicherlich zum großen Teil der Zeit geschuldet ist. Zumindest wird Penworth nicht eindimensional als krank oder „böse“ dargestellt, sondern in seiner inneren Zerrissenheit genauso wahr- und ernstgenommen wie Charles.
In ihrem Oszillieren zwischen Nähe und Abgrenzung ähnelt ihre Dynamik der zwischen Charles und seiner Mutter – sowohl Penworth als auch Charles‘ Mutter kämpfen mit ihrer Angst, den Jungen an seine erste Liebe und damit seinen Einfluss auf ihn zu verlieren, können diese Eifersucht jedoch nie offen zeigen. Es entsteht eine Atmosphäre des permanent Unausgesprochenen, des Tastens und Umeinanderschleichens. Charles‘ bedingungslose Liebe zu seinen vormals einzigen Bezugspersonen ist gebrochen. Für ihn beginnt ein schmerzhafter Emanzipationsprozess. Sowohl seinem Lehrer als auch seiner Mutter steht er nun misstrauisch gegenüber, hin- und hergerissen zwischen Scham, Trotz und Schuldgefühlen.
„Was sie begehren“ ist ein sinnenfreudiger und zugleich zurückgenommener Roman übers Erwachsenwerden, mit allen Irrungen und Wirrungen, die dazugehören – spannend, lebendig, und manchmal etwas schwülstig erzählt. Es sind gerade die Auslassungen und Andeutungen, die viel über die Geschlechternormen und Sexualmoral in jener Zeit verraten.
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