Ihre einzige Rettung ist, den Kontakt völlig abzubrechen.
Manche Leute kann man besser aus der Ferne liebhaben
sagt Daley zu ihren beiden Kindern, als die fragen, warum sie ihren Großvater Gardiner vorher nie gesehen haben. Wer weiß, ob das für die Kinder stimmt, für Daley ist es auf jeden Fall richtig: Ihren Vater kann sie nur schwer ertragen, wenn sie in seiner Nähe ist. Deshalb hatte sie den Umgang mit ihm radikal abgebrochen.
Aber als Kleines ist sie ihm ausgeliefert, findet es lustig, wenn er aus Spaß ihre kleinen Stoffpuppen mit den Fäusten traktiert und durchs Schlafzimmer boxt. Gardiner kann ein guter Vater und Ehemann sein, er ist witzig, charmant und ein bisschen verrückt. Vor allem aber ist er beherrschend. So tanzt er nackt um den Swimmingpool herum, als Meredith, ihre Mutter, eines ihrer Treffen mit armen Kindern aus der Umgebung und einem schwarzen Sozialarbeiter veranstaltet: Während er "Neger" nicht mag, sorgt sie sich um die Integration der Rassen. Es ist die Zeit, in der Nixon zurücktreten muss, Anfang der siebziger Jahre. Und wie viele Männer trinkt auch Gardiner ständig Alkohol, wird dann nicht selten gewalttätig, bitter und zynisch.
Natürlich verlässt Meredith ihren Mann. Sie fährt mit der 11-jährigen Daley in die Ferien zu ihren Eltern, und als sie zurückkommen, geht es nicht mehr in das alte Haus, sondern in eine neue Wohnung. Im alten Haus wohnt jetzt Gardiner mit Catherine Tabor und ihren Kindern zusammen. Meredith hat eine Affäre, sucht sich einen Job, lässt sich scheiden, heiratet wieder. Und auch Gardiner heiratet wieder. Alles ganz normal.
Lily Kings dritter Roman, der vor ihrem wunderbaren Buch über die Ethnologin Margaret Mead erschien, erzählt die Geschichte von Daleys langer, komplizierter und für sie schmerzhafter Beziehung zu ihrem Vater. Die ersten Brüche bekommt ihr Bild vom guten Vater, als er seine Wiedersehensfreude nur heuchelt, als sie zum ersten Mal nach der Trennung zu ihm fährt. Und dann schleppt er sie zum leeren Safe, aus dem ihre Mutter die Familienschmuckstücke mitgenommen hat, und er beschimpft sie wüst: "Drecksau! Drecksau! Drecksau!" Und danach umarmt er Daley: "Aber du gehörst mir", sagt er. "Stimmt's?"
Diese Ambivalenz durchzieht den gesamten Roman:
Meinen Vater zum Lachen zu bringen ist für mich das Schönste, selbst wenn es auf meine Kosten geht
sagt sie einmal. Sie besucht ihn an den Wochenenden, anfangs noch mit ihrem älteren Bruder Garvey zusammen, der sich bald weigert hinzugehen, weil er die Zustände bei seinem Vater nicht erträgt:
Da oben geht's vielleicht zu
erzählt er seiner Mutter,
Catherine fallen fast die Titten aus dem Kleid, sie und Dad pfeifen sich die Martinis nur so rein, die Kinder wanken herum wie die Zombies, Frank ist total zugekifft und diese Kleine, wie heißt sie gleich wieder, könnte direkt ein Wolfskind sein.
Dennoch muss Daley immer wieder hin, und sie will es auch, es ist ihr Vater.
King erzählt drei Zeitabschnitte aus Daleys Leben: als 11-Jährige, als 29-Jährige, 9 Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, als sie ihr Studium gerade beendet hat und einen hochangesehenen Job an der Universität Berkeley in Kalifornien antreten will, Jonathan, ihr schwarzer Freund wird sie begleiten … Aber einen Tag, bevor sie nach Kalifornien losfahren will, ruft ihr Bruder Garvey panisch an, sie müsse ihrem Vater helfen, Catherine habe sich getrennt, er sei nur noch betrunken. Sofort fährt sie zu ihm, hilft ihm dabei, von seinem Alkohol loszukommen und bleibt Monate - die Stelle sagt sie kurzerhand ab. Als Jonathan das mitbekommt, fährt er zu ihr, sie streiten, er fährt weg und meldet sich nie wieder: Er versteht nicht, dass sie ihr Leben so wegwirft. Es dauert lange, bis sie ihn wiederfindet. Die dritte Periode spielt noch einige Jahre später, als ihr Vater im Sterben liegt und sie bereits zwei Kinder hat, die ihn nie gesehen haben. Auch Jonathan hat sie ihrem Vater nie vorgestellt, er ist immer noch rassistisch und antisemitisch und voller Vorurteile, dabei boshaft und nachtragend. Auf der Beerdigung ihrer Mutter ist er nicht gewesen, hat auch nicht angerufen oder geschrieben.
In einfachen Worten, mit großem Abstand berichtet die Ich-Erzählerin aus ihrem Leben und, wie mühsam es war, sich von ihrem manipulativen Vater zu lösen. Sogar ihre berufliche Karriere hat sie für ihn aufgegeben, ohne groß nachzudenken. Sie hat das Gefühl, dass er sie braucht, und deswegen gibt sie alles für ihn auf. Psychologisch subtil erzählt sie, wie stark die Bindungen an diesen Vater sind, der sich selbst und seine Umwelt zerstört. Nicht nur seine Tochter, sondern auch seine Frau Catherine sind wehrlos gegen ihn, fühlen sich abgestoßen von ihm, aber gleichzeitig auch angezogen. Sein Charme, sein Charisma und seine Hilflosigkeit – das alles hält die Frauen an diesem Patriarchen, dessen Weltbild bis zuletzt in den Fünfzigerjahren stecken geblieben ist. So sehr, dass Daley Angst hat, ihren schwarzen Mann Jonathan und ihre beiden Kinder mit ins Krankenhaus zu bringen und sie ihrem Vater vorzustellen.
Viel schneller als die Erzählerin merkt der Leser, was hier gespielt wird, und selbst als Daley das Spiel ihres Vaters durchschaut und intellektuell verarbeitet, kann sie sich nicht dagegen wehren, sie muss einfach bei ihm bleiben. Ihre einzige Rettung ist, den Kontakt völlig abzubrechen. Noch Jahre später, als er sterbend im Krankenhaus liegt, ist sie nicht selbstbewusst genug, sondern hat immer noch Angst vor ihm.
In inneren Monologen und treffenden Dialogen breitet King die dichte Atmosphäre einer gestörten und ungesunden Vater-Tochter-Beziehung aus. Sie schildert in vielen Einzelheiten das Leben ihrer Protagonisten, ihre unterschiedlichen Beziehungen, die sich auflösen und neu knüpfen, sich verändern. Es ist ein Roman über den Kampf einer Frau nach Selbstbestimmung, nach Freiheit von der engen Vaterwelt. Spannend vor allem aus seinen inneren Motiven heraus, packend durch die unterschiedlichen, oft gegensätzlichen, aber immer höchst lebendigen Charaktere und, bis auf einige wenige Längen, sachlich und treffend geschrieben. Es ist ein Buch, wie es oft aus Amerika kommt: selbstreflektiert und ruhig eine Familiengeschichte erzählend.
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