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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Von der Menschwerdung des Frosches

Ein Band dokumentiert Leben und Werk Jean-Pierre Brissets
Hamburg

„Eines Tages, dachte ich, wäre es amüsant, mit ein wenig Geld Brisset neu herauszugeben.“ Das dachte sich nicht nur Marcel Duchamp 1937, sondern auch Maximilian Gilleßen und Anton Stuckardt vom Berliner Verlag zero sharp, der sich ganz der Publikation von Schlüsselautoren der französischen Avantgarde verschrieben hat. Und so verwundert es nicht, dass die zweite Publikation des Verlags, nach einem Band mit Frühwerken Raymond Roussels, eine Dokumentation Jean-Pierre Brissets darstellt. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte dieser ein auf Homophonien gestütztes Sprachsystem entwickelt, das nicht nur maßgeblichen Einfluss auf Roussel, sondern auf eine Vielzahl avantgardistischer Künstler und Schriftsteller ausübte. Mit dem Band Jean-Pierre Brisset, Fürst der Denker. Eine Dokumentation. ist der Franzose jetzt auch in Deutschland zu entdecken.

Jean-Pierre Brisset, der 1837 in einfachen Verhältnissen geboren wurde, begann zunächst eine Ausbildung als Patissier, verpflichtete sich mit 18 Jahren jedoch zu einem mehrjährigen Militärdienst, der ihn unter anderem zum Teilnehmer am Krimkrieg und dem Italien-Feldzug Napoleons III. werden ließ. Im Deutsch-Französischen Krieg wurde er am Kopf verwundet und geriet in Gefangenschaft nach Magdeburg, wo er sehr schnell Deutsch lernte. Nach seiner Rückkehr trat Brisset aus dem Militärdienst aus und arbeitete zuerst als Schwimm-, später als Sprachlehrer und versuchte sich als Linguist zu profilieren. Da die Académie française seine Werke ablehnte, blieb ihm dies verwehrt. Bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1904 arbeitete Brisset als Aufsichtskommissar bei der Eisenbahn. Er starb 1919.

„Und er schrieb. Über vierzig Jahre lang schreibt und arbeitet er unentwegt. Diesem Werk opfert er alles, seine freie Zeit, seine geduldig erworbenen Ersparnisse, die Realität und seinen Verstand.“ Brisset, der von seinen Kriegserlebnissen und seiner Verwundung traumatisiert ist, steigert sich ab den 1870er Jahren in eine selbsterdachte Sprachtheorie, die gleichzeitig den Ursprung und die Entwicklung des Menschen erklären soll. Er ist der festen Überzeugung, dass der Mensch in Wahrheit vom Frosch abstammt, da er, daran hegt Brisset ebenfalls keinen Zweifel, die menschliche Sprache spricht. „Eines Tages versucht er, sie zu imitieren und sagt zu einem still vor ihm verharrenden, fast abwartenden Frosch: Coac. Und dieser hebt den Kopf mit neugierigem Blick und antwortet: Coac. Coâ. Die Frage ist nicht zu überhören: Quoi? Was sagst du?“

Infolge dieses und anderer Offenbarungserlebnisse widmet sich Brisset ganz und gar den Homophonien französischer und anderen Sprachen. Immer neue Botschaften, Erkenntnisse, ja Beweise findet er im Gleichklang der Wörter und Laute, wie eben die vom amphibischen Ursprung des Menschen. „Sehen wir, wo diese Vorfahren gewohnt haben | où ces ancêtres étaient logés: l'eau j'ai = ich habe Wasser oder ich bin im Wasser. L'haut j'ai = ich bin oben, oberhalb des Wassers, denn die Vorfahren erbauten die ersten Wohnungen über den Gewässern. L'os j'ai = ich habe den Knochen oder die Knochen; man verspeiste sie, wo man wohnte. Der Vorfahre war ein Fleischfresser.“

Durch solche sprachlichen Entdeckungen, die außer ihm niemandem sonst aufzufallen scheinen, entwickelt Brisset ein gewisses Sendungsbewusstsein. Er ist davon überzeugt, der siebte Engel der Apokalypse zu sein, von dem Johannes spricht (Offenbarung 10, 7) und der das „Geheimnis Gottes“ verkündet, das für ihn lautet: Gott offenbart sich in der Sprache selbst. Im Gleichklang der Wörter liegen die Antworten auf alle Fragen. Die lautliche Zusammenführung der Dinge, die augenscheinlich nichts miteinander gemein haben, ist der Schlüssel zum Verständnis der Welt.

Obwohl Brisset als Aufsichtskommissar der Bahn stets tadellose Führungszeugnisse ausgestellt bekam, sorgten sich seine Vorgesetzten um den geistigen Zustand ihres Angestellten, der hin und wieder auf seine merkwürdigen Theorien zu sprechen kam. Dessen ungeachtet hielt Brisset Vorträge über seine Entdeckungen in Paris, die jedoch kaum auf Resonanz stießen. Erst mit der Entdeckung seiner von ihm selbst finanzierten Bücher durch den Dichter Jules Romains wurde Brisset bekannt, gelangte jedoch zu zweifelhafter Berühmtheit durch seine öffentliche Krönung zum „Fürst der Denker“ 1913 in Paris. Romains und andere bekannte Vertreter der Bohème, wie Max Jacob oder Guillaume Apollinaire, erlaubten sich auf Kosten Brissets einen opulenten und medienwirksamen Scherz, der vergleichbare und nicht weniger fragwürdige Ehrungen karikieren sollte.

Dennoch gelten Brisset und sein Werk heute als nicht zu unterschätzende Einflüsse für die Entwicklung der französischen Avantgarde. Weit über deren Kernzeit hinaus beschäftigen sich auch namhafte Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen mit Brisset, darunter Jacques Lacan und Michel Foucault. Foucaults Essay über Brisset, in dem er sich vor allem kritisch mit dessen Sprachsystem auseinandersetzt, ist dem Band ebenso beigegeben wie ein Essay Marc Décimos, zahlreiche zeitgenössische Dokumente aus Zeitungen und psychologischen Gutachten, sowie natürlich Texte von Brisset selbst.

Besonders lesenswert wird der Band jedoch durch die einführende, sehr ausführliche und gut recherchierte Darstellung zum Leben und Werk Brissets durch den Herausgeber Maximilian Gilleßen. Während Brisset die Konzentration seiner Leser aufgrund der Fülle von Sprachbeispielen auf die Probe stellt, sind Gilleßens Ausführungen überaus kurzweilig und interessant und tragen maßgeblich nicht nur zum Verständnis Brissets, sondern auch zu den Werken seiner Verehrer bei. Abgerundet wird Jean-Pierre Brisset, Fürst der Denker. Eine Dokumentation. durch Illustrationen von Anton Stuckardt, die direkten Bezug auf Schlüsselbegriffe den Brissetschen Werkes nehmen und auf Ebene einer abstrakten, analytischen Bildsprache betrachten.

Anm.der Redaktion: Die Webseite des Verlags hat zur Zeit technische Probleme. Das Buch können Sie gerne per Email bestellen: info@zerosharp.org

Maximilian Gilleßen (Hg.)
Jean-Pierre Brisset, Fürst der Denker.
Eine Dokumentation
Mit Beiträgen von Marc Décimo und Michel Foucault. Illustriert von Anton Stuckardton
zero sharp
2014 · 384 Seiten · 25,00 Euro
ISBN:
978-3-945421-01-7

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