Innere und äußere Landschaften
In dem Roman der holländischen Autorin Miek Zwamborn Wir sehen uns am Ende der Welt berichtet die namenlose Ich-Erzählerin, wie sie sich bei der Suche nach ihrem spurlos verschwundenen Freund Jens, immer tiefer auf die Spuren des Geologen Albert Heim begibt und dabei ihre Trauer überwindet.
Die Handlung beginnt mit einer anstrengenden einwöchigen Bergtour der Erzählerin und Jens auf die drei Gipfel des Tödi, den mit mehr als 3600 Meter höchsten Berg in den Glarner Alpen. Die Tour ist eine von vielen anderen, die im Rückblick beschrieben werden. Natur und Berge scheinen die wichtigsten Bereiche in der Beziehung von Jens und der Ich-Erzählerin gewesen zu sein, über die man nur erfährt, dass sie sich irgendwie nahe waren.
Um drei Uhr waren wir am Bahnhof von Clarus verabredet. Als ich ausstieg und auf dem Bahnsteig nach Jens Ausschau hielt, roch ich den Schnee und spürte, wie sehr ich mich danach sehnte, mit ihm zusammen in die Berge ins Nichts zu gehen.
Diese Bergtour ist wunderbar poetisch beschrieben. Kaum unterwegs atmeten wir eine andere Zeit. Ihre Schritte verschmelzen mit der Landschaft, sie betrachten nachts aus dem Zelt schauend Millionen von Sternen.
Jeder Punkt hatte eine andere Farbe, sie verschlangen uns, die ungeheure Tiefe des Alls machte uns schwindlig, genau wie das Bewusstsein unserer Nichtigkeit. Als wir ein paar Stunden später erwachten, wussten wir wieder, warum wir das alles auf uns nahmen – der rote Himmel, ein erster sonnenbeschienener Gipfel, zwei Gemsen auf dem Kamm, das Licht auf Jens‘ Gesicht.
Beiläufig wird schon hier auf Albert Heim verwiesen, der im Lauf der Handlung immer größeren Raum einnehmen wird und die Suche nach Jens allmählich in den Hintergrund treten lässt. Beim Anblick der Felsen und des Gerölls denkt die Ich-Erzählerin an Heim und der Leser erfährt, dass es sich um einen Schweizer Geologen (1879 -1937) handelt, der sich auf das Anfertigen von Alpenmodellen spezialisiert hatte.
Der Aufstieg ist anstrengender als gedacht. Zweimal nehmen sie den falschen Weg und Jens kommt nicht richtig mit, muss öfter pausieren.
»Ist etwas? «, frage ich vorsichtig?
» Ich weiß nicht. Nichts ist. Das ist ja das Problem. Ich versuche mich zu wehren, versuche es zu verdrängen; sobald es losgeht, haue ich ab, aber wohin? In meinem Kopf ist kein Platz mehr für mich. Ständig werde ich an den Rand gedrängt, ignoriert, runtergezogen. Keine Ahnung, warum ich dir das nicht früher erzählt habe.«
Der mögliche Verlust des Freundes wird in diesem ersten Kapitel immer wieder angedeutet. Fragte sich die Ich-Erzählerin bereits bei der Begrüßung am Bahnhof, wie oft sie sich noch wiedersehen würden, hält sie bei der Verabschiedung in Zürich fest: Dort sahen wir uns zum letzten Mal.
Weil es öfter vorkam, dass Jens nichts von sich hören ließ oder lediglich rätselhafte Postkarten mit beispielsweise fossilen Baumstämmen schickte, macht sich die Erzählerin vorerst keine Sorgen.
Die Vorstellung, dass er herumstromerte und im Freien, umgeben von Bäumen und Bergen, übernachtete, gefiel mir.
Erst als seine Eltern sie fragen, ob sie etwas über Jens‘ Aufenthalt wisse, wird ihr deutlich, dass er sich nicht nur nicht gemeldet hat, sondern verschwunden ist. Nun begibt sie sich auf seine Spuren. Sie bereist dieselben Orte und Länder, besteigt dieselben Berge, begibt sich in Höhlen und Bergwerke und lernt bei dieser Spurensuche viel über Geologie und andere naturwissenschaftliche Bereiche.
Wie ihre Protagonistin hat die Autorin zahlreiche naturkundliche Museen besucht (fünfzehn werden im Nachwort aufgeführt), von denen im Roman berichtet wird.
Denn Jens‘ Interesse an Naturwissenschaften und speziell an Geologie überträgt sich auf seine Freundin. Wie er, ist sie vor allem von Albert Heim fasziniert, dessen Leben im Rahmen der Spurensuche detailliert ausgebreitet wird. Und so enthält der Roman durch Berichte und Dokumente verschiedene Genres, ist auch Biografie und Reisebericht. Wie Heim mit der Untersuchung von Gesteinsschichten Rätsel der Menschheit offenlegen wollte, versucht die Erzählerin durch ihre Reisen den Gedanken ihres Freundes näherzukommen.
Die wissenschaftlichen und biografischen Ausführungen werden durch zahlreiche Fotografien ergänzt, die einerseits den Text bebildern, andererseits über ihn hinausweisen und auf die künstlerische Ausstrahlung von Steinen, Bergen usw. vertrauten. So gibt es beispielsweise ein Foto von einer Exkursion, die Heim inmitten seiner Studenten im Säntismassiv zeigt. Sie sitzen auf dem Schindeldach der Alp. Schaut man das Bild genauer an, sieht man die mit Nägel bespickte Schuhsohle von Heim. Dazu hält die Erzählerin fest:
Es ist ein rührendes Detail, intimer noch als ein nackter Fuß. Für mich kreist das ganze Bild um diesen Fuß, der so allein auf dem Dach liegt. … Ich zähle hundertfünfzehn Nägel darin, sehe Profil und Abdruck gleichzeitig – Ankündigung und Überbleibsel von Heims Anwesenheit in der Landschaft.
Inwiefern bleibt unsere Spur in der Landschaft? Bereits im ersten Kapitel wird dieses Thema gestreift.
Ich drehte mich zu der Spur um, der wir gefolgt waren. Unsere Schritte über den Schritten vor uns. Der Spur war nicht anzusehen, dass wir zu zweit waren.
Von Jens gibt es jedenfalls keine Spur. War der Erzählerin zu Beginn jede Gelegenheit recht, sich in etwas zu verbeißen, um sich abzulenken, sagt sie ein dreiviertel Jahr später:
Solange Jens noch vermisst wurde, konnte ich ihn in Gedanken überall hinschicken. Manchmal wusste ich schon nicht mehr, ob meine Erinnerungen an ihn nicht frei erfunden waren. An manchen Tagen war mein Verlangen danach, wieder mit ihm unterwegs zu sein, unerträglich.
Allerdings verdrängt Heim Jens immer mehr aus den Gedanken der Erzählerin. Denkt sie bei einer Wanderung noch an beide Männer, ist der Meinung, sie sei nicht allein, weil die Schatten von Heims und Jens ihr ermöglichten, tagelang im Gebirge zu bleiben, stellt sie nach zwei Jahren fest:
Ich wusste, ich würde Jens nicht wiederfinden und musste mein eigenes Leben wieder aufnehmen. Er fehlte mir jetzt nicht mehr so heftig, zuerst wagte ich nicht, es mir einzugestehen, aber das Leben wurde wieder leichter, eine neue Zeit brach an.
In seiner Mischung aus Poesie und Naturwissenschaft ist Wir sehen uns am Ende der Welt ein außergewöhnliches Buch. Neben dem Vergnügen über sprachliche Facetten bei der Suche nach einem Freund, bei detaillierten Beschreibungen der Berge, der Gesteinsschichten und nicht zuletzt bei Ausführungen über eine Blitzröhre kann man bei der Lektüre auch viel Neues lernen.
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