Versunkene Kathedralen...
Es fängt damit an, dass Rosslyn anruft, um ihn zu fragen, was er gern zum Geburtstag hätte. Eine heikle Frage, denn um die zwei Sachen, die er sich wünscht, kann er sie nicht bitten: eine Akustikgitarrre,
denn man kann seine ehemalige Freundin wohl schlecht um eine Gitarre bitten. Auch nicht um eine billige. Es ist ein zu bedeutsames Geschenk. Es setzt zu viel voraus. Es bringt sie in eine heikle Lage.
Und
Am liebsten hätte ich dich wieder
kann er auch natürlich auch nicht sagen.
Paul Chowder ist ein Herumdenker, der auf einem alten Bauernhof in Maine lebt und über sich und die Welt und die Musik und das Leben und Zigarren und Kautabak nachdenkt und nachsinnt und hinterherfühlt. Und uns seine Gefühle und Gedanken miterleben lässt, die Tag um Tag kommen, ihn erfüllen und überschwemmen. Uns erzählt, was ihm so alles passiert, was nicht besonders viel und vor allem nichts Besonderes ist: Er sitzt in seinem Musikstudio und komponiert, kümmert sich um die Hühner seiner Nachbarin Nan, wenn sie nicht da ist, und um seine Exfreundin Rosslyn, die er immer noch liebt. Macht mit dem Nachbarssohn Musik, sitzt
im blendenden Mittagslicht neben dem Hühnerstall
und erzählt
von den Dingen, von denen erzählt werden muss. Ihr wisst schon: Liebe, Ruhm, das Nichts, versunkene Kathedralen und das selbstfahrende Regenmobil von Sears.
Die versunkenen Kathedralen, „La cathédrale englouti“, das ist ein beeindruckendes Musikstück von Claude Debussy, von dem er bei einem der Quäker-Treffen erzählen wollte, an denen er regelmäßig teilnahm:
Ich wollte sagen, dass Debussy gewaltige stille Akkorde spielte und man in ihnen das rauchig-blaue Wasser, die verfallenen Säulen der zerstörten Kirche und die langen blauen Fische sehen kann, die durch das Schiff ziehen und mit der Schnauze gegen den salatigen Seetang stoßen. (…) Dass er einem Freund schrieb, er wünschte manchmal, er wäre ein Schwamm auf dem Meeresgrund – éponge, im Französischen ein nützlich quetschbares Wort. Doch dann entwickelte er dieses Musikstück, das zehnte Prélude, und er schuf darin einen großen, schattigen, stillen Ort unter Wasser, einen Ort des Friedens, wo man, wenn man die Musik hört, die mittelalterlichen Fische schwimmen sehen kann.
All dies und noch viel mehr wollte Paul sagen.. Meistens wird bei diesen Treffen miteinander geschwiegen, bis irgendjemand aufsteht und etwas sagt. Und dann wird auch nicht darüber diskutiert, sondern still darüber nachgesonnen oder hinterhergeträumt. Aber dann blieb auch er still.
Chowder ist ein mäßig erfolgreicher Dichter, der jetzt auch angefangen hat, Protestsongs zu schreiben. Und natürlich Liebeslieder für Rosslyn. In einem wunderbar fließenden, mäandernden, rauschenden Monolog erzählt Nicholson Baker in seinem neuen Buch, „Das Regenmobil“, von einem Mann, der sich vor seinem 55. Geburtstag fürchtet, ein wenig allein ist und sich selbst beobachtet. Aber er seziert sich nicht, bewertet sich nicht. Er ist freundlich zu sich und vielleicht ein bisschen melancholisch, vor allem am Anfang, wo er seinen neuen Gedichtband „Kummermütze“ nennen möchte. Später wird er sogar etwas übermütig und schreibt:
Weg mit der Kummermütze, wo ist mein Hit-Hut?
Da möchte er einen Musik-Hit schreiben, Geld verdienen, berühmt werden... Aber auch nicht so ganz ernsthaft. Musikmachen macht ihm einfach Spaß, seit er als Kind Fagott gespielt hat.
„Das Regenmobil“ ist eine Feier des Alltags, der normalen Verrichtungen, der alltäglichen Dinge. Wie eben das Regenmobil, das man zum Bewässern des Gartens herumschicken kann. Und so schickt er auch seine Gedanken herum zwischen Zigarren, Supermärkten, Lebensmitteln, Buchläden oder Drohnen. Kopfhörern, Musikinstrumenten, Stereosteckern und Autos. Oder Noten:
Noten können lang oder kurz sein, und im wirklichen Leben biegen sie sich immer hoch und runter wie elastische Knetfiguren.
Mit seiner variationsreichen, mal poetischen, mal sachlichen, mal schwebenden Sprache lässt Baker den Leser an Pauls Stimmungen, Befindlichkeiten und Beobachtungen teilhaben. Er lässt sich detailliert über die Technik seines neuen Synthesizers aus, mit dem er rhythmische Geräuscheaufnimmt: einen klappernden Deckel auf einer rostigen Dose, einen Pastatopf mit einem Zentimeter Wasser, die Drähte eines Eierschneiders:
Ich schnitt die Eierschneider-Samples auf Logic und entdeckte, wie ich mit dem Fade-Tool die kleinen Popps wegbekam, wo ich die Schnitte gemacht hatte.
Er berichtet von seinen Überlegungen, sich den „KORG Kaossilator“ doch noch zu kaufen, und von seinem Lehrbuch „Dance Music Manual“, das aufgebaut ist
wie eine scholastische Abhandlung über Engel.
Er erzählt freundlich und sanft von seinen Gefühlen, seinen Nachbarn und seiner Exfreundin, von der Natur und der Musik, von seinen Gedichten und Liedern. Das Buch mit seinen privaten, fast tagebuchartigen Einträgen ist ein organisch abwechselndes Hin und Her zwischen Innen und Außen, zwischen Bildern, Metaphern und Realismus. Träumen, Beobachten, Handeln und Denken, zwischen dem Saubermachen des Autos und dem Genießen des Geräuschs beim Staubsaugen,
wie die Münzen durch den Schlauch klackten (…) und wie der Sand durch den Schlauch granulierte
und der Erkenntnis beim
Geruch von Scheibenwaschwasser,
dass er sich auf das Picknick mit Rosslyn vorbereitet, als wenn es ein Date wäre:
Du trauriger Trottel,
sagt er zu sich. Ganz liebevoll und ehrlich.
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