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Kritik

Liebende Blicke ohne Scheu vor Abgründen

Dem russischen Philosophen Nikolaj O. Losskij(1870-1965) gelingen mit seiner völkerpsychologischen Studie behutsame wie kundige Auskünfte über mentale Befindlichkeiten in seinem Land.
Hamburg

Der Titel des vorliegenden Büchleins irritiert in einer Zeit, die lieber von „Gesellschaft“ als von „Volk“ spricht und den Begriff „Nation“ in einem erweiterten Verständnis „als eine Gemeinschaft der Verschiedenen, die allerdings eine gemeinsame Wertebasis zu akzeptieren hat“ begreifen möchte, wie Bundespräsident Gauck es unlängst formuliert hatte.

Nikolaj Losskij war sich beim Verfassen seiner Schrift, die 1957 in russischer Sprache erstmals in einem Exilverlag erschienen war, durchaus darüber im Klaren, daß die Untersuchung eines kollektiven Charakters immer der Gefahr ausgesetzt ist, schablonenhaft Klischeevorstellungen zu bedienen.

Losskij macht aus seiner parteiischen Haltung kein Hehl und plädiert als Exilant, getrieben von Heimweh und Liebe zu seiner russischen Heimat, für das Wahrnehmen eines reichen kulturellen Schatzes. Im Zeitalter des Kalten Krieges bemühte sich Losskij, das Erscheinungsbild der Sowjetunion vom eigentlichen russischen Wesen abzuheben: „Die ganze Welt weiß heute, daß das gottlose, unmenschliche Sowjetsytem ein teuflisches Böeses darstellt“. Auch 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion zeigt sich, daß diese wichtige Unterscheidung von unvermindert brisanter Aktualität ist. Daß im heutigen Russland selbsternannte Patrioten mit Stolz auf die Errungenschaften des Sowjetreiches verweisen, hätte ihn vermutlich tief erschüttert.

Methodisch geschickt widmet sich Losskij in elf unterschiedlich umfangreich ausgefallenen Kapiteln bestimmten Stichworten wie etwa „Gefühl und Wille“, „Freiheitsliebe“, „Die Gutmütigkeit des russischen Volkes“ oder auch des „Nihilismus und Hooliganismus“. Losskij belegt seine Betrachtungen und Ergebnisse mit zahlreichen Beispielen aus der russischen Geschichte, Literatur und Philosophie.

Als grundlegendste Eigenschaft des russischen Charakters konstatiert Losskij dessen „Religiosität und die mit ihr verbundene Suche nach dem absoluten Guten, das nur im Reich Gottes zu verwirklichen ist“. Aus dieser Festlegung leitet Losskij Erklärungsmuster für politische und kulturelle Prozesse ab, die gleichzeitig immer auch von weiteren Faktoren abhängig waren. Somit entfaltet sich ein differenziertes Bild der russischen Mentalität. Entscheidende Weichenstellungen in der Geschichte wie zum Beispiel die Herausbildung der sogenannten Intellegenzija als kulturellen Typus, der nicht organisch in unteren Volksschichten verankert ist, leiteten Entfremdungen im religiösen Selbstverständnis ein. Eine weltliche Unduldsamkeit gegen Armut und Unterdrückung führte im weiteren Fortgang zu einer „Sucht nach der Verwirklichung des Gottesreiches auf Erden ohne Gott“ und endete letztlich in jener gewaltigen Devastierung für Land und Leute, wie es sich in der Sowjetunion dargestellt hatte.

Indem sich Losskij Aufschlüsse über eigene Entwicklungen verschaffte, ermöglichte er zugleich Auskünfte für Menschen in Russland wie auch für Außenstehende. Die Souveränität des russischen Patrioten hinderte Losskij nicht daran, sich neben den angenehmen Eigenschaften wie auch verdienstvollen Leistungen des russischen Volkes unverfälschten Blicken in Abgründe auszusetzen. Seine umfassenden landeskundlichen Kenntnisse kamen ihm zugute, um manch schreckliche Kapitel in der russischen Vergangenheit erklären zu können.

Nikolaj O. Losskij zählt wie etwa Nikolaj Berdjajew, Sergej Bulgakov, Pawel Florenskij, Simon Frank oder Iwan Iljin zu jenen Philosophen, die als russische Religionsphilosophen bezeichnet werden. Ihre Schriften waren in der Sowjetunion verboten und auch im Westen waren ihre Wortmeldungen lediglich kleinen Zirkeln von Experten bekannt. Losskij hatte an der Universität St. Petersburg und nach seinem erzwungenen Exil 1922 für zwanzig Jahre in Prag unterrichtet. Von 1942 bis 1945 lehrte er an der Universität Bratislawa, von wo er vor der siegreichen Roten Armee flüchten mußte. In den späten 1940er Jahren war er als Professor an der renommierten Geistlichen Akademie St. Vladimir in New York tätig.

Auch nach Jahrzehnten des Abdrängens und der Marginalisierung zeigt sich, daß bei aller Verschiedenheit ihrer Wortmeldungen die Gedankenwelt der russischen Religionsphilosophen eine unerwartete Aktualität besitzt. Auch insofern ist dem Herausgeber und Übersetzer Dietrich Kegler zu danken, daß er ein weiteres Mal einer wichtigen Stimme unserer russischen Nachbarn Gehör verschafft und damit auch einen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis geleistet hat.

Losskijs völkerpsychologische Studie nimmt in gewisser Weise vorweg, was die moderne Ethnologie hinsichtlich ihrer Selbstreflexion von Begrifflichkeiten und Forschungsansätzen zu einer kritischen Sicht der Gesellschaft führt. Die neuere Geschichte hat gerade am tragischen Beispiel Russlands unter Beweis gestellt, daß es nicht die vielbeschworenen Feinde von außen, sondern vielmehr der Verlust des eigenen Gedächtnisses ist, der eine Kultur zum Ersticken bringen kann.

Nikolaj O. Losskij
Der Charakter des russischen Volkes
Übersetzt und herausgegeben von Dietrich Kegler
ACADEMIA
2011 · 204 Seiten · 19,50 Euro
ISBN:
978-3-89665-537-0

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