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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Lehrreiche Lektionen für Ost und West

In atemberaubenden Anläufen belegt Vladimir Kantor eine west-östliche Dynamik in der kulturellen Entwicklung Russlands
Hamburg

Der in Moskau lehrende Professor für Philosophie Vladimir Kantor hat sich im vorliegenden Band einer besonderen Herausforderung gestellt. Er unternimmt verschiedene Anläufe, um vornehmlich im Bereich der russischen Literatur das besondere Spannungsfeld zwischen eigenen Traditionen und westlichen Einflüssen auszuloten. Dabei holt der Autor weit aus und zieht in ergänzend Weise die spezifische Denkweise der russischen Philosophie hinzu. Kantors konzentrierte Skizzen weisen auf die besonderen Umstände der russischen Geschichte hin, die sich im Vergleich mit etwa der europäischen Entwicklung völlig anderen Herausforderungen ausgesetzt sah.

Mit der Christianisierung der Kiever Rus‘ im Jahr 988 hatte sich der Großfürst Vladimir nach wohlweislicher Abwägung für die seinerzeit dynamischste kulturelle Formation, also für das Christentum entschieden. Umso einschneidender wirkte sich der spätere Einfall durch die Mongolen auf das weitere Schicksal des Landes aus. Das sogenannte „Tatarenjoch“ hinterließ nach zwei Jahrhunderten mentale Spuren, die sich bis in die heutige Zeit hinein nachweisen lassen. Auch nach der gewaltsamen Abstreifung dieser Fremdherrschaft durch Iwan den Schrecklichen waren bestimmte Prägungen weiterhin in Kraft geblieben. Für den russischen Bauern hatte sich kaum etwas verändert. Nach wie vor herrschte „die Willkür der Steppe gegen das eigene Volk, das als Tributpflichtiger des Staates verstanden wurde“. Werte wie Eigentum, Ehre und Würde waren kulturell kaum verankert und dem Belieben einer unkontrollierten Obrigkeit ausgesetzt. Bis heute macht es sich in Russland bemerkbar, daß es Probleme mit einem funktionierenden Rechtsstaat gibt, der unter anderem durch freie Wahlen, eine unabhängige Justiz oder auch durch lokale Selbstverwaltungen gekennzeichnet ist.

Die Auslotung östlicher Taditionen in der russischen Mentalität korrespondiert bis in die unmittelbare Gegenwart hinein mit einer merkwürdigen Fixiertheit auf Europa, auf „den Westen“. Diese äußert sich sowohl in einer kritiklosen Überbietung westlichen Lebensstils wie auch andererseits in vehementen Gesten der Ablehnung. Kantor belegt in diesem Zusammenhang die in Russland immer wieder aufflammenden Vorstellungen, Europa zu „überflügeln“. In Verbindung mit dem Bewußtsein besonderer Erwähltheit findet sich derlei Phantasien im 19. Jahrhundert besonders bei Alexander Herzen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die Bolschewisten diesen Topos auf gewaltsame Weise aufgegriffen.

Aus seiner Ablehnung der russischen Oktoberrevolution nicht zuletzt im Hinblick auf deren verheerenden Folgen in ökonomischer wie zivilisatorischer Hinsicht macht Vladimir Kantor kein Hehl. Kulturologisch ordnet er diese Vorgänge in den Zusammenhang der historischen Tatarenherrschaft ein. Dabei macht er unter anderem eine bestimmte Mentalität der „Steppe“ aus, die sich dadurch kennzeichnen läßt, nichts Schöpferisches hervorbringen zu können, sich aber durch Übernahme fremder Leistungen aufrecht erhält. Im Revolutionsjahr 1917 sieht Kantor einen weiteren Sieg dieser Mentalität. Damit einhergehend wurden „das Eigentum an Grund und Boden, generell das Privateigentum, die Geschworenengerichte, die Selbstverwaltung“, wie sie etwa in Europa selbstverständlich sind, vernichtet.

Der besondere Reiz in Vladimir Kantors Untersuchungen liegt darin, daß er seine Ausleuchtung geschichtlicher Hintergründe mit einer Vielzahl von Beispielen besonderer kultureller Erscheinungen in Russland zu verknüpfen versteht. So überzeugen etwa seine literatursoziologischen Betrachtungen zur Rolle des Buches, das in Russland seit Peter dem Großen für die „Idee der persönlichen Freiheit“ steht. Im Westen gab es dafür Institutionen, Körperschaften und Zünfte.

Am Beispiel eindrucksvoller Porträts wegweisender Schriftsteller wie Fjodor Dostojewski, Alexander Puschkin oder Leo Tolstoi, aber auch anhand akademischer Persönlichkeiten wie Konstantin Kavelin(1818-1885) wird die allgemein anerkannte Autorität der Bildung als Bewahrer einer unverfälschten nationalen Identität belegt.

Auch in den 1960er und 1970er Jahren waren es gebildete Persönlichkeiten wie etwa Valentin Asmus, Sergej Averincev, Leonid Batkin oder Merab Mamardaschwili, die als Historiker, Literaturwissenschaftler oder Philosophen in der ideologischen Ödnis der Sowjetunion die zivilisatorischen Werte von Demokratie und Humanität bewahren halfen. Andrej Sacharow, ein Physiker, avancierte angesichts der menschenverachtenden Umstände zum Kämpfer für Menschenrechte.

Angesichts dieser spezifischen Voraussetzungen birgt der Blick in die russische Literatur wertvolle Aufschlüsse. Nicht die Liebe zur Literatur alleine läßt Kantor zu Dostojewskijs Werk greifen, „sondern weil wir darin einen Wesenssinn suchen, eine Art Quintessenz der nationalen Selbsterkenntnis“. In der Analyse von Dostojewskijs Roman „Die Dämonen“ gelingt Kantor ein besonders eindrucksvoller Beleg seines Forschungsansatzes.

Eigentlich gegen den Willen Dostojewskijs entfalten sich im Roman „Die Dämonen“ anläßlich einer arglosen Feierlichkeit hemmungslose Energien. Es gibt weder moralische, kulturelle oder religiöse Grenzen – alles scheint erlaubt zu sein. Und genau in diesem Fokus deutet sich eine Art unheilvoller Vorhersage eines gewalttätigen 20. Jahrhunderts in Russland an, in welchem das Unterste zuoberst gekehrt wurde – unter dem frenetischen Jubel der Massen.

Der zweite Teil dieser verdienstvollen Sammlung  ergänzt unter dem Titel „Die russische Philosophie und der Untergang des russischen Imperiums“ in spiegelbildlicher Weise Kantors literarische Erschließung des russischen Phänomens. Hier untersucht Kantor kulturelle Begriffe wie „Endzeit der Geschichte“, den Mythos des „Übermenschen“ oder auch die Figur des „Antichrist“. Auch in diesem Zusammenhang widmet sich Kantor unermüdlich der Frage, wie es möglich war, daß in Russland eine „komplette Revision aller Werte der Menschheit“ erfolgen konnte.

Im Mittelpunkt von Kantors philosophischen Betrachtungen stehen neben dem Religionsphilosophen Simon Frank (1877-1950) vor allem die Schriften des Soziologen und Philosophen Fedor Stepuns (1884-1965). Beide Denker eint, daß sie ihre Publikations- und akademischen Wirkungsmöglichkeiten in der Folge der russischen Oktoberrevolution verloren hatten, sowie gezwungen waren, den Weg in das europäische Exil zu wählen. Nicht zuletzt aufgrund des erzwungenen Austausches der eigenen Lebenswelten hatten Denker wie Frank oder Stepun die Gelegenheit, ergänzende oder gar entgegengesetzte Mentalitäten kennenzulernen. Frank wie Stepun hatten sowohl die Wirren der Oktoberrevolution wie auch in Deutschland das Entstehen des Nationalsozialismus unmittelbar miterlebt. Die Lehren, die sie daraus gezogen hatten, lesen sich heute wie Vermächtnisse und es verwundert, daß diese, wenn überhaupt dann nur mit jahrzehntelanger Verspätung zur Kenntnis genommen werden. Im Osten wie auch im Westen! So ist es bemerkenswert, wenn Fedor Stepun zum einen darauf hinweist, daß die russischen Slawophilen den denkerischen Ertrag des Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant nie begriffen hätten und wenn er zugleich erleben mußte, wie im Zuge des  Niedergangs des Christentums in Europa totalitäre politische Kräfte und Denkungsweisen erstarkten. Auch das philosophie Werk Simon Franks besticht durch seine Verknüpfung russischer Weisheitsliebe mit westlicher Vernunftphilosophie.     

Die Gegner der modernen Zivilgesellschaft lassen sich indes auch in der russischen Gesellschaft von heute finden. Im Rückgriff auf Werte einer unreflektierten Tradition, die den kritischen Verstand des Einzelnen einer amorphen Gesamtheit opfert, beanspruchen spezifisch ausgerichtete politische Kräfte das patriotische Monopol. Anhand von Erscheinungen wie etwa der allgegenwärtigen Korruption, welche Vladimir Kantor als Merkmale eines organisierten Chaos ausmacht und deren Wurzeln er der „Steppe“ zuordnet, zeigt sich indessen, daß die Ausrufung einer vermeintlichen russischen Identität des Glaubens und des Vaterlandes eine zynische Chimäre darstellt. Es ist nur folgerichtig, daß die Mentalität aus diesem Dunstkreis seine Anhängerschaft gegen den „Westen“ zu mobilisieren vermag.

Vladimir Kantor · Dagmar Herrmann (Hg.)
Das Westlertum und der Weg Russlands
Zur Entwicklung der russischen Literatur und Philosophie
Mit einem Beitrag von Nikolaus Lobkowicz
ibidem
2010 · 352 Seiten · 39,90 Euro
ISBN:
978-3-8382-0102-3

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