Wo der „Gutmensch“ herkommt
Die Zahl der Diskutierer in den Foren deutscher Zeitungen schnellt in die Höhe, wenn es um die Zeit des Nationalsozialismus in Filmen und Büchern geht. „Gähn“ kann man da wiederholt lesen oder „wie lange wollt ihr uns Jungen den Nazistempel aufdrücken“. Es sind die 30- bis 40- jährigen, die sich hier wehren und finden, es sei „langsam genug“. Eine Gruppe der älteren Diskutierer weist demütig auf die deutsche Schuld hin, eine andere schiebt alles auf „den wahnsinnigen Österreicher“. Die Zyniker, und das sind nicht wenige, meinen: „Nazi sells“.
Das Feuilleton heizt die Emotionen entsprechend an. „Genug der niedlichen Nazimonster“ fordert gereizt wie gespreizt Christiane Peitz im Tagesspiegel im Hinblick auf den Fernsehfilm „Rommel“. Zu nett sei die Darstellung der Nazis, zu menschlich. Doch, fragt man sich, ist es nicht vielleicht das, was die jungen Diskutierer so aggressiv macht, dass die Kleinen und die Großen im Naziregime Menschen waren, die ihre Kinder liebten und gern Musik hörten. Was Hannah Arendt vor einem halben Jahrhundert ins Staunen brachte und dann als „Banalität des Bösen“ verschlagwortet wurde, hat noch eine Zuspitzung erfahren: das „Böse“ steckt prinzipiell im Menschen. In dir und mir. Was die jungen Menschen so aggressiv diskutieren lässt, ist es nicht die Ahnung, in einem jedem von uns könnte auch etwas von dem stecken, das ein „Drittes Reich“ möglich machte? Und das mit dem Begriff des „Bösen“, der im 21. Jahrhundert etwas gar zu kindliches hat, allein nicht abzutun ist.
Während im jüngsten Fernsehfilm über Erwin Rommel einer der Täter entmystifiziert werden soll, und im, schon für den fremdsprachigen Oscar gehandelten, Kinofilm „Lore“ hochumjubelt („endlich eine neue Sicht“) ein „Täterkind“ im Mittelpunkt steht, wagt der Israeli Nir Baram einen genauen Blick in das Innenleben der „guten Leute“, der unpolitischen Mitläufer, die unverzichtbar für das Funktionieren des Systems waren. Wie? - Ein Israeli, wenn auch erst Jahrgang 1976, schreibtnicht über den Holocaust?
Tatsächlich. Baram wählt die Zeit zwischen der Pogrom-Nacht 1938 und den Überfall auf die Sowjetunion 1941, um das Verhalten, auch die Nöte zweier Menschen zu beschreiben, die den jeweils herrschenden Systemen dienten. Und Baram wagt es, ohne große Erklärungen, die Biografien des Deutschen Thomas Heiselberg und der Sowjetrussin Alexandra Weißberg neben einander zu stellen, um sie gegen Ende des Romans kreuzen zu lassen. Doch ob der Schriftsteller damit Stalin mit Hitler gleichstellt, ist der Interpretation überlassen.
Heiselberg arbeitet in der deutschen Niederlassung einer amerikanischen Marktforschungsfirma. Er ist ehrgeizig. Zu seinen Partnern gehört neben einer französischen und einer italienischen auch eine polnische Filiale. Um mit ihnen erfolgsorientiert arbeiten zu können, hat sich Heiselberg nicht nur in die jeweilige Mentalität hineinversetzt, er hat auch die Sprachen gelernt. Sogar Russisch beherrscht er akzentfrei im Moskauer Dialekt in Voraussicht auf kommende Geschäfte, die außerdem mit Fernost, Indien und Australien in „nimmermüdem Ehrgeiz“ geplant sind.
Als sich der amerikanische Gesellschafter 1939 aus Deutschland zurückzieht und Heiselberg um seine Existenz bangen muss, wendet sich das Auswärtige Amt an ihn; er als Polenkenner solle ein Modell entwickeln für den „richtigen Umgang mit der dortigen Bevölkerung“. Heiselberg ist entzückt, seine Daten und Erforschungen zu Polen waren nicht umsonst, sie finden neue Anwendung!
Sein im Roman „das Modell“ genannte Papier, eine Art Handlungsanweisung für führende Nazi-Kader, führt ihn nach Warschau, wo er in leitender Position einer Außenstelle des Auswärtigen Amtes vorsteht und lediglich „formal“ dem Generalgouverneur Hans Frank (spielte Klavier und empfing Gerhart Hauptmann – S.T.) unterstellt wird.
Zwei Motive kämpfen in Heiselberg, sein „Modell“ zu verteidigen und sich gleichzeitig von der brutalen Realisierung seines Papiers zu distanzieren, indem er den Versuch unternimmt, sich unter Hermann Görings Fittiche zu stellen. Der Generalfeldmarschall (Kunstsammler, Freund der schönen Künste – S.T.) hatte den Kriegssieg der Deutschen über die Umsetzung der Rassenpolitik gestellt. Hier glaubt Heiselberg sich Ranghöheren andienen zu können, die Zweifel an der ihn befremdenden Umsetzung seines „Modells“ haben. Doch er fällt über den nächsten Vorgesetzten, der das Manöver durchschaut hat. Und Heiselberg wird in Lublin kaltgestellt. Er darf fortan zusehen, wie „sein“ Modell auf der Straße mit Deportierungen und Ghettos pervertiert wird.
In Leningrad, so die Parallelgeschichte, nimmt die Tochter von Regimekritikern die Chance wahr, ihre Brüder zu retten, indem sie ihre Eltern und deren Freunde an den sowjetischen Geheimdienst verrät. Alexandra Weißberg heiratet den alten Schulfreud, der ihr eine Stelle im NKDW (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten = sowjetischer Geheimdienst) anbietet, wo er selbst in höherem Dienst tätig ist. Alexandra Weißberg „fertigt“ mit den Opfern „Geständnisse“ an, die sie möglichweise vor den Folgen der „Säuberungen“, dem Tod, retten sollen. Gleichzeitig fürchtet sich die Kommissarin vor der Rache der Überlebenden.
Gegen Ende des Romans kommen diese „guten Leute“ zu einem Vorhaben zusammen, das von ihren jeweiligen Auftraggebern als „Kaltstellen“ gedacht ist. Sie sollen gemeinsam ein deutsch-sowjetisches Manöver in Brest vorbereiten, das im Sommer 1941 (!) zur Feier der deutsch-sowjetischen Beziehungen stattfinden soll.
Beide knien sich in diese absurde Aufgabe bei völliger Leugnung der sich um sie befindenden Realitäten, Heiselberg denunziert seine „Partnerin“, indem er seinen Auftraggebern ihre jüdische Identität offenbart, in der Hoffnung, sich herausstreichen zu können und sie abzuhängen.
In dem letzten Kapitel treffen die beiden in existentiellem Aufeinanderangewiesensein zusammen. Der zu Beginn etwas zähe Roman lohnt sich – nicht nur des Themas wegen – aber vor allem angesichts der menschlichen wie politischen Unterfütterung und schließlich Thriller artigen Zuspitzung des Dramas der guten Leute, das für jeden nachvollziehbar ist.
Letztendlich treten Assoziationen zutage, die ganz und gar in unsere Zeit reichen: wie bequem lehne ich mich zurück, ich kann ja nichts dafür, dass die anderen das missbrauchen, was ich gut gemeint hatte, sollen doch die anderen machen, ich rette meine Haut. Inwieweit lasse ich mich in Mechanismen einbinden, die ich (früher möglicherweise, vielleicht 1968 und kurz danach), abgelehnt habe. Nicht zuletzt, der Krieg ist heute 67 Jahre vorbei: Lasst uns mit den alten Geschichten in Ruhe, gähn, ich will, wie Heiselberg meine Karriere voranbringen oder wie Alexandra meine Brüder retten. Baram erzählt, er bricht keinen Stab, das überlässt er feinerweise dem Leser. Der kann wegen „Überfütterung“ missmutig die Lektüre ablehnen, er kann gähnen, er kann über diese Mitläufer den Stab brechen. Er kann aber auch in den Geschichten dieser Figuren Versatzstücke seines eigenen Daseins erkennen, seiner Gleichgültigkeit, seines Karrieredenkens, seines Unpolitschseins.
Ist das Zynisch-Sein heute nicht eine Abart des neuen Unpolitischseins, hat der neue Zyniker nicht den denunzierenden Terminus „Gutmensch“ geschaffen, der auf üble Weise Engagement für Menschlichkeit mit Blasphemie vermischt?
Baram selbst ist kein Zyniker, er setzt sich ein, bezieht Position, gemeinsam mit berühmten Kollegen warnt er in einem offenen Brief den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vor einem Präventivangriff Israels gegen den Iran. Er engagiert sich für eine offene israelische Gesellschaft, die sich nicht nur jüdisch identifiziert.
„Gute Leute“ ist ein Diskussionsbeitrag erster Güte über die Gegenwart, die aus der Vergangenheit resultiert. Baram gibt keine Deutung, keine Wertung vor, denn – er nimmt uns als Leser ernst.
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