Reell real
Wer hier wer ist, ist schwer zu sagen. Alice ist nextGirl ist nG ist die jüngste Bloggerin der Szene ist 13 ist das „Storchenkind“ und hört sich manchmal an wie eine Mittvierzigerin. Bianca ist ein aufstrebendes Model ist ein „Menschtierhybrid“ ist eine „Wurmchimäre“ ist ein paar Jahre älter als Alice. Vielleicht sind Bianca und Alice aber auch ein und dieselbe Person. Michael ist der Museumswärter ist Paläobiologe ist Alice’ Vater ist ein Mann, der seine Homosexualität erst spät entdeckt.
Die meisten Identitäten in Olga Flors Blogroman „Ich in Gelb“ bleiben unklar oder aber außerordentlich wandelfähig. Wie das halt so ist im Internet – und irgendwie ja auch im Real Life. Ebenso das Bombardement mit Banalem und Hochphilosophischem, Persönlichem und Politischem, aus dem es tagtäglich das Wesentliche herauszufiltern gilt.
Alice bloggt – mal fröhlich-naiv, mal bitterernst – über Medusenhäupter, Mollusken und Spaghettieis. Vor allem aber über Mode. Stets geht es um Style, genauer gesagt um die Frage: „Wie bringe ich die anderen dazu, das in mir zu sehen, von dem ich will, dass sie es in mir sehen?“
Was wir vor uns haben, ist also nicht einfach ein digitales Tagebuch. Im Gegenteil: Das Tagebuchschreiben (sprich: die Innenschau) ist im 21. Jahrhundert längst abgeschafft. Die Identitätsdarstellung folgt nicht mehr der Identitätssuche, sondern ersetzt sie. Das Ergebnis sind vergangenheitslose Informationsschnipsel, die sowohl vorwärts als auch rückwärts verlaufen. Eine dramaturgische Raffinesse, die sich bescheiden hinter dem für uns bereits zur Gewohnheit gewordenen Format des Blogs versteckt: NextGirls Blogeinträge gehen in der Zeit zurück, während die Kommentare von Bianca und „MuseumsVater“ chronologisch fortlaufend erzählen. Bis schließlich die Zeitblase in einem groß angekündigten Event des „unglaublich genialen Designers“ Josef im Naturhistorischen Museum kollabiert.
Was zunächst wie ein schwindelerregendes Potpourri aus Nichtigkeiten erscheint, produziert nach und nach „eine Umstülpung des Raums“, aus dem sich diverse Metaebenen herausschälen. Natürlich ist der Name „Alice“ kein Zufall. Doch Flor fügt dieser Referenz eine weitere, postmoderne Schicht hinzu: Anstatt uns lediglich in die Welt hinter dem Spiegel zu entführen, zeigt uns nextGirl, wie der Spiegel in die Wirklichkeit hineingreift und diese subtil verändert. Backstage und Bühne vertauschen sich; ein Netz-Avatar fühlt sich bisweilen realer an als der müde Körper, der tagtäglich verschlafen zur Schule schleicht.
Nicht immer jedoch bleibt nG so „eindeutig ein Kind des dritten Jahrtausends“, wie sie vorgibt zu sein. An diversen Stellen wirken ihre Reflexionen über das Wesen des Digitalen zu reif, zu welterfahren und belesen, um aus dem Mund einer 13-Jährigen zu stammen.
„ Nur ein dokumentiertes Leben ist ein echtes“, heißt es da. Oder: „Weil ich jederzeit alles herausfinden kann, was ich wissen wollen könnte, verliere ich die Lust, es zu tun.“ Und kann sich jemand, der eine Welt „offline“ nie kennengelernt hat, wirklich fragen, „ob das Festhalten von Momentaufnahmen einer äußeren Wirklichkeit das Leben irgendwie wirklicher macht, wirklicher als wirklich, reell real“?
Nicht nur diese klugen und provokanten Überlegungen zu unserem Umgang mit dem Digitalen, auch nextGirls dezidiert feministische Ansichten entsprechen eher dem Jahrgang und Erfahrungshorizont der Autorin (geboren 1968). Allerdings ist diese Vermischung der Stimmen und Zeitebenen vermutlich Absicht, trägt sie doch dazu bei, nGs Identität im Unklaren zu belassen.
Auch Bianca ist letztendlich nur ein weiteres Medusenhaupt derselben Hybrididentität: Während nextGirl sich in einer Phase ungezügelter Neugier und Experimentierfreude befindet, in der sie die eigene Identität nach Lust und Laune kreieren und verwerfen kann, hat Bianca bereits den entfremdenden Aspekt einer Selbstdarstellung kennengelernt, die längst zur Selbstausbeutung geworden ist. Styling, so bloggt nG großspurig, sei das ultimative Tool für Frauen, das eigene Bild zu kontrollieren. Doch wie leicht einem diese Kontrolle entgleiten kann, zeigt Biancas Geschichte, die von den Zurichtungen weiblicher Körper in- und außerhalb der Modewelt bericht: „Nur eine Pose, die schmerzt, ist eine gute Pose, und dabei muss sie aussehen, als täte sie nicht weh, als käme sie ganz natürlich über dich.“
Die vorgeblich „authentische“ Fremdbestimmung spitzt sich zu in einer schief gegangenen Wurmkur. Eigentlich sollten die Wurmeier Bianca von diversen lästigen Allergien befreien; tatsächlich jedoch entwickelt einer der Darmparasiten ein groteskes Eigenleben. Was dann geschieht, mutiert im Laufe des Romans immer mehr zum Trash-Horror – aufgefangen jedoch von Biancas nüchterner, abgeklärter Sprache. Der Wurm in Bianca wächst und wächst, wandert durch ihren Körper und sucht sich immer neue Stellen, an denen er sich einnisten, Beulen und Hörner ausbilden kann. Das Ende der Modelkarriere? Ganz und gar nicht! Auch hier baut Flor einen perfiden Twist ein: Die Fotografen sind hellauf begeistert von der Allianz zwischen Monstrosität und Schönheit. Der Parasit wird marktfähig gemacht; Bianca zu einem Wunder „performativer Deformation“ erklärt.
Bianca spielt mit, freundet sich mit dem Wurm in ihr an, gibt ihm Kosenamen und zähmt ihn mit Schmerztabletten – nur zu viele dürfen es nicht sein, damit seine Aktivitäten, die ihr neuerdings so viel Ruhm einbringen, nicht vollständig erlahmen. Doch hin und wieder regt sich in Bianca auch noch etwas anderes. Nämlich ein leiser Widerstand. NextGirls Vorschlag, zukünftig ihr Management zu übernehmen, kommentiert sie bockig: „Langsam habe ich es satt, dass das Fremde in mir mehr zu sagen hat als ich.“ Weshalb dann auch Josefs wohldurchdachter Museumsevent in einer unerwarteten Explosion enden wird.
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