Überleben: eine Gewaltaktion
Gut Ding will Weile haben. 50 Jahre lang schrieb der ursprünglich im Künstlerfach beheimatete Autor Pawel Salzman an seinem Roman „Die Welpen“. Weitere 30 Jahre dauerte es, bis dieser dann in seiner russischen Heimat veröffentlicht wurde. Dabei hätte es keinen Grund gegeben, der Welt dieses Werk so lange vorzuenthalten - auch wenn es ein Ungetüm von einem Buch ist, eine erzähltechnisch innovative Höllenfahrt quer durch Sowjetrussland, die ihre Figuren durch Schluchten, Kerker und Aborte führt und sie Raubmord, Betrug und Beziehungstragödien aussetzt. In seinem wunderbaren, erhellenden Nachwort schreibt der Autor Oleg Jurjew, dieses Buch ändere „die ganze Geschichte der russischen Prosa im 20. Jahrhundert“. Salzmans einziger Roman muss in der Tat als das Werk eines Ausnahmekünstlers betrachtet werden. Nicht zuletzt, weil es stilistisch äußerst heterogen ist und Realismus, Phantastik, Expressionismus und Fabel unter einen Hut bringt.
Das klingt nach einer verkopften, komplexen Angelegenheit. Umso frappierender ist dann die Erkenntnis, dass der Roman ein recht zugänglicher Schmöker ist. Zu verdanken ist dies auch dem atemberaubenden Erzähltempo, in dem die Wege zweier schwarzer Welpen nachskizziert werden. Bereits im ersten von sieben Romanteilen geht der Leser auf Tuchfühlung mit der Kargheit Sibiriens. Das Überleben von Mensch und Tier ist ein fortwährendes, unerbittliches Ankämpfen gegen Hunger und Eiseskälte. Für einen Krumen Brot geht man über Leichen, denn es gilt das Gesetz des Stärkeren. Zwischen den Hungerleidenden und den plündernden, vergewaltigenden Soldaten wirkt der junge Petka, der nach einer jäh endenden Zugfahrt seine Lidotschka aus den Augen verliert, wie von einem anderen Stern. Ähnlich die junge Sonja, die sich in Teil III im sommerlichen Transnistrien eines Welpen annimmt, während sich um sie herum Ungeheuerliches zuträgt: Erschießungen, persönliche Tragödien. Längst nicht alle Schurken bleiben indessen namenlos. Einige der unliebsamsten Charaktere tauchen als nonchalante Antihelden in den letzten beiden Teilen auf, in denen abhanden gekommene Aktfotos im Mittelpunkt eines geradezu irrwitzigen Krimis stehen. Je vertrauter dem Leser die „beklemmende Schwermut“ des Romans wird, umso sensibler wird er für die zahlreichen subtilen Deutungen, die Salzman ihm als schlichte Fakten präsentiert. Etwa den Umstand, dass der Umgangston im Leningrader Teil des Romans nicht weniger rau, die Lebensrealität nicht weniger bitter ist als in der Provinz, in der die vorangehenden Großkapitel spielen. Den Autor selbst zeichnen diese Schachzüge als klugen Denker und scharfen Beobachter des Alltags in der jungen Sowjetrepublik aus.
1912 als Sohn eines Russlanddeutschen und einer Jüdin in Kischinjow geboren, wuchs Pawel Jakowlewitsch Salzman im heutigen Moldawien bzw. in der Ukraine auf. Dem jungen Multitalent – Salzman schrieb seit frühester Kindheit Gedichte, zeichnete und malte – gelang es, sich in den späten Zwanzigern in Leningrad als Künstler und Grafiker zu etablieren. Seine Arbeit als Szenenbildner für ein Filmstudio führte ihn auf Reisen quer durch die Sowjetunion, die kaum weniger prägend gewesen sein dürften als der Kontakt zu Avantgardisten wie dem renommierten Maler Pawel Filinow und dem Schriftsteller Daniil Charms. Es ist kein Zufall, dass der historische Rahmen, in dem Salzman seine Geschichten ansiedelt, niemals explizit erwähnt wird. Dabei dienten die leidvollen Erfahrungen seiner Zeitgenossen in den Bürger- und Zwischenkriegsjahren sicherlich als Blaupausen für seine Szenen von Gewaltexzessen verbaler und vor allem auch körperlicher Art, die in „Die Welpen“ einen wesentlichen Teil der Handlung darstellen. Über zwei Seiten beschreibt der – fast völlig in den Hintergrund tretende – auktoriale Erzähler minutiös, wie eine Katze eine Maus tötet; an zahllosen anderen Stellen schildert er mit verstörender Beiläufigkeit Szenen von Mord, Suizid und Misshandlung.
Wo der Mensch auf seine basalen Bedürfnisse und niederen Triebe reduziert ist und eine fast schon übertrieben realitätsnahe Sprache den kruden Egoismus von Proletariat und Bürgertum freilegt, tritt die spärlich vorhandene Empathie zwangsläufig umso deutlicher zutage. Es sind allerdings vor allem die Tiere, nicht die Menschen, die Zartgefühl und bedingungslose Liebe empfinden, wie auch die Übersetzerin in ihrem Nachwort zu Recht betont. Begriffe wie „menschlich“ und „animalisch“ verlangen mit einem Mal nach einer Neudefinition, zumal Hase, Bär, Eule und Welpen stark anthropomorphe Züge haben. Mehr noch: Sie verfügen über eine Art sechsten Sinn, da sie die Gedanken der Umherstehenden vernehmen können. Derweil gleichen sich Mensch und Tier in ihrer Ausdrucksweise und sogar in ihrem Begehren:
„Lidotschka: Ich wache auf fürs Wiedersehen; im Blut, beschattet von Federn, wird Fröhlichkeit geweckt durch Wärme. Wangen röten sich. Augen funkeln. Im Mund der Schwestern regt sich die Zunge im Speichel. Die Eule verspricht ihnen Schinken, Flaschen, und nahebei im Gezweig – im Traum – öffnet sie einen Korb für unterwegs.“
Traumsequenzen dieser Art können und sollen den Gewaltszenen nicht ihren Schrecken nehmen. Ganz bewusst setzt Salzman auf Erlebnis und Unmittelbarkeit anstatt auf Kontemplation. Seine Leser werden so zu Zeugen dessen, was der dünne Firnis der Zivilisation kaum verdecken kann: Seinen Instinkten scheinbar machtlos ausgeliefert, nimmt mensch sich, was er kriegen kann. Da ist die anarchistische Erzählform nicht nur passend, sondern geradezu zwingend: Salzman bringt in seinem Roman dramatischen Dialog, expressionistische Lyrik und Passagen im Stream of Consciousness unter.
„Die Welpen“ ist alles andere als leichte Kost. Doch es ist ein Buch von bezwingender Intensität und Ehrlichkeit, das das mit all seinen strukturellen Makeln und Gewaltszenen durchaus poetisch und stellenweise sogar anrührend ist, und das gerade auch dank Christiane Körners großartiger Übersetzung mehr Bekanntheit in der deutschen Literaturlandschaft verdient. Sein kurzweiliger Roman beweist es: Salzman beherrscht sie, die Kunst der langen Weile.
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