Das Zuhause ist, wo die Bücher sind
„Die Journalisten kommen sehr oft …“ erzählt ein Herr Bunimov der Kamera, nach der Arbeit mit William Wolff befragt. Wenn er das so sagt, dann klingt es fast, als sei Wolff ein gefragter Filmstar und er selbst sein Agent. In Wirklichkeit ist der Interviewte Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern; Wolff ist der Rabbiner. Willy, wie ihn gute Freunde nennen, ist ein kleiner, schmächtiger Mann, dem man nicht anmerkt, dass er im Laufe seiner 89 Lebensjahre schon oft gefilmt und interviewt wurde. Dass er eines Tages auf der Kinoleinwand zu sehen sein würde, hätte er selbst sich allerdings wohl niemals träumen lassen.
Die preisgekrönte Dokumentarfilmerin und -produzentin Britta Wauer hatte ihn nach einem ersten Treffen im Jahr 2008 vom Fleck weg als Erzähler für ihren Film über den Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee engagiert. Die Wahl erwies sich als Glücksgriff. Wauers Doku „Im Himmel, unter der Erde“ (2011), die so beseelt und heiter-melancholisch ist, wie ein Friedhofsfilm eben sein kann, kommentierte Wolff mit der für ihn typischen Mischung aus schalkhaftem Witz und Lebensweisheit, und gewann mit seiner unkonventionellen Art die Herzen der Zuschauer.
Wie britisches Understatement, Berliner Direktheit und jüdischer Humor sich in einer Person vereint finden können, zeigt nun Wauers neuer Film im Verleih der Edition Salzgeber. „Rabbi Wolff“ feierte am 14. April Weltpremiere und ist schon jetzt ein so großer Publikumserfolg, dass es Sondervorführungen gibt.
Über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren mit der Kamera begleitet zu werden ist ganz klar eine Herausforderung; selbst für jemanden, der regelmäßig im Rampenlicht steht. Dass ihm die Aufzeichnungen bei Gottesdiensten, Jubiläums- und Gedenkfeiern, aber auch bei Verwandtenbesuchen und schnöden Alltagserledigungen unangenehm oder lästig sind, merkt man ihm nicht an; es sei denn, er kann sich gut verstellen. Doch William Wolff scheint sich schauspieltechnisch zurückzuhalten, und das macht ihm zum denkbar geeignetsten Protagonisten eines Doku-Porträts. Denn der charmante, ein wenig zerstreute ältere Herr kommt überaus authentisch rüber. Aber ist er auch der ungewöhnlichste Rabbiner der Welt, wie so oft behauptet wird?
Die Idee, Rabbiner zu werden, kam ihm gewissermaßen im Schlaf. Mit einem verschmitzten Lächeln erzählt er: „Ich bin eines Morgens aufgewacht, und wusste: Das will ich machen!“ Da war er bereits 52 Jahre alt und hatte mehr als 25 Jahre lang als politischer Journalist gearbeitet. 68 Jahre nach seiner erzwungenen Emigration nach Holland und schließlich nach England kehrte der gebürtige Berliner nach Deutschland zurück. Jetzt hat er sozusagen mehrere Heimaten: Als Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern betreut er die Gemeinden in Rostock, Schwerin und Wismar, und fliegt alle 2 bis 3 Wochen nach England, wo er sich ein gemütliches Häuschen im Grünen eingerichtet hat. So startet der Film denn auch mit Szenen vom Londoner Flughafen Heathrow, von dem aus er seine übliche Strecke nach Hamburg fliegt. Mit dabei: die obligatorischen blauen Tüten von der Buchladenkette WHSmith. Denn das Zuhause ist bei ihm, wo die Bücher sind, sagt der Mann, der neben fließendem Englisch und Deutsch auch Holländisch, Hebräisch und Russisch spricht.
Dass Wolff, laut Kinoplakat ein „Gentleman vor dem Herrn“, sich sowohl unter den russischstämmigen Gemeindemitgliedern als auch bei seinen christlichen Freunden in England, an der Ostseeküste wie auch am Toten Meer wohl fühlt, steht für ihn nicht im Widerspruch. Der Rabbiner und Journalist hält auch sonst nicht viel vom Prinzip des Entweder-Oder - und von der Vorstellung, dass Freundschaften nur mit gleichaltrigen Glaubensgenossen zu knüpfen sind. Wohin auch immer ihm die Kamera folgt, von „Little Paddock“ über die Ostsee nach Berlin und weiter nach Amsterdam und Tel Aviv – überall ist der kleine Mann mit dem großen Schlüsselbund ein gern gesehener Gast. Kein Verwandter, Freund oder Arbeitskollege, der ihn nicht als klugen, warmherzigen und humorvollen Menschen schätzt, und das auch der Filmemacherin anvertraut.
So viel Lobhudelei könnte den Zuschauer misstrauisch machen oder ihn sogar nerven, doch Britta Wauers einfühlsames Porträt zeigt einen Mann, der andere trotz, nicht wegen seiner Lebensentscheidungen beeindruckt, und der sich um die Meinung anderer Leute offenbar herzlich wenig schert. Mit Begeisterung besucht Rabbiner Wolff jedes Jahr den Weihnachtsgottesdienst in Windsor und das königliche Pferderennen in Ascot. Dass er mit schöner Regelmäßigkeit aufs falsche Pferd setzt, ist Nebensache. Hauptsache, es macht Spaß - so lautet die Lebensdevise des exzentrischen deutsch-britischen Juden, der bekennender Yoga-Fan ist. Da erscheint es fast konsequent, dass er trotz seiner streng orthodoxen Herkunft liberaler Rabbiner geworden ist, noch dazu einer, der nie eine Familie gegründet hat. William Wolff ist tatsächlich ein Anwärter auf den Titel „ungewöhnlichster Rabbiner der Welt“. Mindestens.
Wenn „Rabbi Wolff“ auch Menschen anspricht, die bislang kaum etwas mit dem Judentum zu tun hatten, liegt das sicher auch daran, dass es eine dieser raren Darstellungen zeitgenössischen jüdischen Lebens in Deutschland ist, die klischeefrei, unbefangen und optimistisch daherkommt – weil nicht zuletzt auch der Protagonist all diese Attribute in sich vereint. Den Rabbi würde man nie mit schlechter Laune erleben, behauptet eine deutsche Bekannte gar. In nachdenklicher Stimmung erlebt ihn der Zuschauer aber durchaus, wenn er etwa über die Flucht aus Deutschland spricht, oder über den Tod seiner engen Familienangehörigen. Auf dem Gesicht des eher melancholischen William Wolff verweilt Kaspar Köpkes Kamera nie zu lange – leider, möchte man fast sagen. In Wauers Porträt wird kaum an die dunklen, peinvollen Stellen in Wolffs Erinnerung und Herzen gerührt; vielleicht aus Feingefühl. Doch es wirkt eben auch wie eine Ausblendung eines wichtigen Teils seiner Persönlichkeit. Dessen ungeachtet schafft es der Film über weite Strecken, die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz zu halten, das spiegelt sich nicht zuletzt auch im gekonnt rhythmisierten Wechsel zwischen Nah- und Weitaufnahmen.
Rabbi Wolff und die Dinge des Lebens, Hentrich & Hentrich 2016 Mag durch das bloße Anreißen einiger einschneidender Erlebnisse in seinen jungen Jahren auch bisweilen ein Eindruck von Unvollständigkeit entstehen - „Rabbi Wolff“ ist trotz der Exkurse an Orte der Kindheit und Jugend nun einmal als stark gegenwartsorientierter Film konzipiert. Umso empfehlenswerter ist deswegen die Lektüre des Begleitbandes „Rabbi Wolff und die Dinge des Lebens. Erinnerungen und Einsichten“, der zeitgleich zur Leinwandpremiere bei Hentrich & Hentrich erschien, den Herausgebern von Manuela Koska-Jägers elegantem Fotoband „Abraham war Optimist“ (2010) über Rabbiner Wolff und seine Gemeinde.
Einiges von dem, was der Rabbiner aus seinem Leben erzählt, hat es nicht mehr in den Film geschafft; zu umfangreich war das Material, das Britta Wauer zusammengetragen hatte. Aus über 100 Stunden an aufgezeichneten Gesprächen musste also eine Auswahl getroffen werden. Das Ergebnis: ein schmales Buch von kaum mehr als 100 Seiten. Bedingt durch das Format sind die Texte natürlich sehr nah an der gesprochenen Sprache, doch auch wenn man gerne etwas aus der Feder des eloquenten Vielschreibers selbst gelesen hätte – seine alles andere als altbackene Lebensweisheit schimmert dennoch auf vielen Seiten des Bändchens durch. Die einzelnen Kapitel - in chronologischer Reihenfolge, aber aufgelockert durch Gedankeneinschübe zu ausgewählten Themen - werden durch zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos ergänzt. Die Bilder aus Wolffs jungen Jahren faszinieren; umso mehr, als der Rabbiner einige der Familienfotos offenbar selbst erst vor kurzem wiederentdeckt hat. Letzten Endes erweist sich der Band gerade wegen seiner Kürze als gelungene Ergänzung zur Dokumentation. Zumal er auch für diejenigen, die den Film bereits gesehen haben, einige Überraschungen bereithält. Was sich hinter dem Namen „The Whole Meal“ verbirgt, und was Rabbiner Wolff mit Aimées „Jaguar“ verbindet, wird an dieser Stelle natürlich nicht verraten ...
Was allerdings verraten werden darf: William Wolff, mittlerweile nur noch ehrenamtlich tätiger Rabbiner mit ausreichend Zeit, überlegt, ein Buch zu schreiben. In einer der letzten Filmszenen verrät er, dass das erste Kapitel sogar bereits geschrieben ist. Thema des Buches: Mutige Frauen. Wir sind gespannt!
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