Der lange Weg nach Hause
In Bewegung bleiben; denn wo Stillstand ist, lauert der Tod – so könnte der Tenor lauten, der sich durch Renata Adlers Debütroman „Rennboot“ zieht, und mit dem auch ihr zweiter Roman „Pechrabenschwarz“ beginnt: „Wir rannten, was das Zeug hielt.“
1983 erschien Adlers Zweitling in den USA, 1987 dann auf Deutsch bei Suhrkamp. Nun wurde er in der Bibliothek Suhrkamp neu aufgelegt. Vielleicht kein Zufall, dass diese beiden Bücher gerade jetzt ihr wohlverdientes Comeback erleben dürfen – wirken sie doch, abgesehen von bestimmten politischen Ereignissen („Tja, wer erinnert sich heute noch an Oberst Dozier“) absolut auf der Höhe der Zeit. Der übersteigerte Aktionismus der Adler-Protagonisten, ihre intellektuelle Wendigkeit und zugleich Zerfahrenheit verkörpern perfekt den Geist der Postmoderne, ja lassen beinahe die Zerstreuungen des Digitalen vorausahnen.
Das erste Kapitel von „Pechschwarz“ bietet eine ebenso bitterböse wie vergnügliche Fortsetzung des Erstlings: Karikaturen aus dem Collegeleben an der Ostküste der USA, entlarvende Anekdoten über die New Yorker Bohème der 70er und frühen 80er Jahre, Parties, Parties, Parties. Dazwischen Adlers typisch pointierte Polemik über poltische Zustände im Kalten Krieg: „Unser damaliger Chefunterhändler bei den Abrüstungsverhandlungen vertrat die Ansicht, über Spannungen in der Welt lasse sich am besten in Begriffen aus der Affenwelt diskutieren.“
Das Leben der Journalistin Kate Ennis – man darf annehmen, eine weitere Facette des literarischen Alter Egos der Autorin – ist sicherlich ereignisreicher und von weitaus mehr Situationskomik geprägt als das Leben einer Durchschnittsamerikanerin. Jedoch ergibt sich erst aus Adlers zugespitzter Erzählweise – in Anlehnung an Emily Dickens – eine übers rein Anekdotische hinausweisende Bedeutung: „So etwas geschieht wirklich: auf dem Hinweg Salzcracker und das reine Freiwilligenheer, auf dem Rückweg Röntgenbusse, die von der F.A.L.N. entführt werden. Und die Sache ist natürlich die, dass ich mein Leben als etwas Ernstzunehmendes ansehe. Bloß dass, ich weiß nicht, wie ich sagen soll, die Wirklichkeit, die ich bewohne, von vornherein verdreht ist.“
Der Unterschied zum Vorgänger: „Pechrabenschwarz“ durchzieht, bei aller Verweigerung des Narrativen, so etwas wie ein roter Faden – die Fieberkurve einer über Jahre hinweg andauernden Liebschaft, die Kate mit einem verheirateten Mann führt.
Refrainartig streut Adler Dialogfetzen ein, die auf eine wiederkehrende, offenbar nicht zu lösende Thematik verweisen: „Er sagte, Du bist gegangen.“ „Ich sagte, Aber können wir so leben.“
Manchmal wechselt die Perspektive unvermittelt von „ich“ zu „sie“ – das romantische Patt wird von außen beleuchtet, im Spiegel gesellschaftlicher Erwartungen oder der Ratschläge wohlmeinender FreundInnen. Kates ständiges Oszillieren zwischen rationalen Überlegungen und emotionalen Bedürfnissen offenbart eine Verletzlichkeit, ein Schwanken und Zweifeln, die in Adlers gnadenlosem Journalismus nicht zu finden waren.
Die Abnabelung vom abwesenden Geliebten führt Kate im zweiten Kapitel nach Irland. Als würde sie aus einem Traum oder einer langen Krankheit erwachen, findet sie sich um drei Uhr morgens in einer pechrabenschwarzen Novembernacht am Steuer eines Mietwagens wieder, irgendwo zwischen Cihrbradàn und Castlebar. Was folgt, ist ein groteskes Reiseabenteuer mit Ausflügen ins Gruselgenre, durchbrochen von Rück- und Vorgriffen auf die Beziehung, der Kate eigentlich entfliehen wollte. Kate wird Opfer eines ausgeklügelten Versicherungsbetrugs, die Angestellten im Haus des Botschafters scheinen einen Komplott gegen sie zu schmieden, und jede Abzweigung, die sie wählt, endet im Nichts. Schließlich wähnt sie überall Terroristen, Korruption und Verschwörung, verstrickt sich in immer absurdere Lügengeschichten und spielt mit dem Gedanken, das Land unter falschem Namen zu verlassen.
Was das alles soll, mag man sich zunächst fragen. Bis allmählich klar wird: Erst hier sehen wir Kate „nackt“ vor uns. Ihrer gewohnten Umgebung entrissen, hat sie ihre nonchalante Souveränität komplett eingebüßt. In der Fremde auf sich gestellt, macht sie keinen Hehl aus ihren Ängsten und Unsicherheiten. Das einzige, was ihr bleibt, ist, sie durch Übertreibung ins Komische zu ziehen.
Ebenfalls klar wird, dass „Pechrabenschwarz“ aus Abschweifungen und Umwegen besteht, dass Kate Ennis die wahnwitzigsten Haken schlägt. Geschieht dies, um dem Schmerz zu entkommen? Oder vielmehr, um genau den Punkt überhaupt erst zu finden, an dem es am meisten wehtut?
Manche Spiralbewegungen lassen erst spät erkennen, welche Erkenntnisse sie einleiten. So zum Beispiel, als Kate von dem Waschbären erzählt, der sie regelmäßig in ihrer Waldhütte in Connecticut besuchen kommt. Am Schluss heißt es: „Ich glaubte, es sei im Begriff, Zutrauen zu mir zu fassen, während es in Wirklichkeit im Begriff war zu sterben. Das sind wir natürlich alle. Aber normalerweise verwechseln wir Anzeichen fortschreitender Schwäche, das Abhandenkommen der bloßen Fähigkeit zu Flucht, nicht mit dem Aufkeimen von Liebe.“ Oder doch? fragt man sich unwillkürlich. Adlers nüchterne, nicht selten sogar zynische Sätze gehen manchmal, ganz unvermutet, mitten ins Herz.
Fragmente bedeutsamer Konversationen, die sich tief eingebrannt haben, Andeutungen, die erst fünfzig oder hundert Seiten später erklärt werden („Die Sache war die, der Eiswürfel war präpariert“), vollziehen nach, wie unser Hirn arbeitet, simulieren die Fehlbarkeiten und Verdrängungsmechanismen unseres Gedächtnisapparats. Weitaus präziser, als es eine chronologisch erzählte Geschichte je hätte tun können.
Es sind genau diese bedeutungsvollen Auslassungen und zunächst unverständlichen Abschweifungen, die uns ein präzises, eindrückliches Bild der Protagonistin und ihrer Lebenswelt vermitteln. „Pechrabenschwarz“ gewährt einzigartige Einblicke in die Art, wie wir uns selbst unsere Geschichte erzählen. Wie es manchmal viele Anläufe braucht, um zum unangenehmen Kern einer Sache vorzudringen. Wie besonders schmerzhafte oder besonders schöne Gedankensplitter immer wieder die Oberfläche durchdringen. Wie viele Umwege und Vorgeschichten zuweilen nötig sind, um ein einzelnes Ereignis zu begreifen.
Das dritte und letzte Kapitel heißt „Heimgekommen“. Und wir verstehen, warum Kate den chinesischen Hypnotiseur aufsuchte. Warum sie ihre Silvesterabende gern mit einer Gruppe alternder deutscher Exil-Intellektueller verbringt. Warum Diana zu ihrer Tochter sagte: „Nicht hier.“ Und auch, warum das alte Ehepaar im Zickzack die Landstraße entlangging.
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