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Kritik

In der Gesellschaft der Ungeheuer

Der Roman „Die unbekannte Terroristin“ des tasmanischen Autors Richard Flanagan ist von großer Brisanz und Aktualität
Hamburg

Es gibt Bücher, die von der Wirklichkeit eingeholt oder sogar von rechts überholt werden, Richard Flanagans vierter Roman, „Die unbekannte Terroristin“, zählt unbestreitbar dazu. Im Original ist er bereits 2006 erschienen, auf Deutsch aber erst zehn Jahre später veröffentlicht worden, wahrscheinlich im Zuge einer gesteigerten Sensibilität des Publikums gegenüber dem Terrorismus islamistischer Prägung. Dennoch kommt das Buch natürlich nicht zu spät, weil gute Bücher niemals zu spät kommen. Aber vor der Folie jüngster Ereignisse verliert es ein wenig an der Intensität des Schreckens, denn wieder einmal überbietet die Wirklichkeit, in diesem Fall: leider, die Fiktion.

Vier Tage. Mehr braucht es nicht, um das Leben der Nachtclubtänzerin Gina Davies, genannt „die Puppe“, für immer zu zerstören. Und es reicht dazu die Verkettung zweier vollkommen unabhängiger Ereignisse: die Puppe läßt den gerade dringend auf eine Erfolgsstory angewiesenen Journalisten Richard Cody vorm Nachtclub abblitzen und lernt am Strand einen Mann namens Tariq kennen, der zufällig den Sohn ihrer besten Freundin in letzter Minute vorm Ertrinken rettet. Danach überschlagen sich die mit besten Thrillerzutaten gewürzten Ereignisse. Um das Spoilerpotential nicht allzu sehr in die Höhe zu treiben, sei vom weiteren Verlauf des Romans nur noch so viel verraten: am Ende steht die Puppe in äußerster Verzweiflung mit einem geladenen Revolver vor Richard Cody.

Doch es geht Richard Flanagan in erster Linie gar nicht um einen spannenden Reißer. Dieser ist wohl nicht einmal das Zugeständnis an diverse Publikumserwartungen, sondern vielmehr die Konsequenz aus den geschilderten Umständen. Flanagan zeigt eine Gesellschaft, wie sie grausamer kaum sein könnte, ja, die die Grausamkeit und Angst benötigt, um überhaupt zu funktionieren.

Die Puppe fragte sich, ob die Menschen möglicherweise gar nicht ohne Angst leben konnten. Was, wenn sie die Angst brauchten, um sich ihrer Identität zu versichern, um bestätigt zu sehen, dass ihre Lebensweise die richtige war?

Sydney liegt in diesem Roman mitten in der Hölle. Drei Bomben in Rucksäcken werden im Stadion gefunden. Wer ist dafür verantwortlich? Sie sind Auftakt einer gnadenlosen Terroristenjagd, die die Polizei und die Medien mit größter Hysterie beginnen. Gleichzeitig tobt auf den Straßen ein ebenso mitleiderweckendes wie abstoßendes Gemisch aus Gewalt, Drogen, Lust, schwitzenden, schmachtenden Leibern, hohlen Gesichtern, Korruption, Mißtrauen, Desinteresse. Die Puppe ist, wie die meisten ihrer Mitbewohner in dieser Stadt, nur auf die schnelle Befriedigung der Bedürfnisse konzentriert, Konsum ist Rausch, Schein ist Ruhm und Ansehen.

Hinter ihr ging es noch eine Weile so weiter, sie traten auf den Mann ein, als wäre er allein verantwortlich für diese triste, tote Dekade, in der sie alle leben mussten, ein Sack voll Scheiße, der einmal ein Mensch gewesen war, an einem Ort, der einmal eine Gemeinschaft gewesen war, in einem Land, das einmal eine Gesellschaft gewesen war.

Mit solchen und ähnlichen Situationen, in die sie eingreifen und durch ihr Einschreiten vielleicht etwas ändern könnte, wird die Puppe im Laufe der vier Tage immer wieder konfrontiert. Ein einziges Mal rafft sie sich zu einer Geste auf, doch meist unterscheidet sie sich nicht vom Strom der lethargischen Gaffer. Sie durchläuft verschiedene Stadien auf dem Weg zur Ausgestoßenen der Gesellschaft: Verdrängung, Rebellion, zornige Ergebenheit ins Schicksal. Sie erkennt, daß das Individuum nichts gegen den übermächtigen Staatsapparat ausrichten kann, zumal wenn dieser alle Ängste der Bevölkerung ausnutzt und die Medien in ihrer Manipulation unterstützt.

Wer fragt sich nach der Lektüre von Flanagans Roman nicht, ob die Anschläge der letzten Zeit wirklich sämtlich aufs Konto islamistischer Terroristen gingen? Flanagan verharmlost die reale Gefahr dadurch keineswegs, aber er sensibilisiert für die Frage nach der Rolle der Medien und ihrer Verantwortung. Insofern trifft Flanagans Roman nach zehn Jahren noch — und auch das ist erschreckend — voll ins Schwarze einer brisanten Zeit. Die Journalisten, die Politiker, die Experten, die Fernsehbosse, die Ermittler sind auf ihre Weise genauso dem Irrsinn verfallen wie die Terroristen, im Grunde jeder Einzelne, der zugleich Opfer und Täter ist. Flanagans Ekel vor der Gesellschaft mag zuweilen plakativ sein, aber er ist echt und nicht unberechtigt.

Richard Flanagan
Die unbekannte Terroristin
Übersetzung:
Eva Bonné
Piper Verlag
2016 · 336 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-492-05710-3

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