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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Wetterzucken im Waadtland

Der Roman „Das Flirren am Horizont“ von Roland Buti, ausgezeichnet mit dem Schweizer Literaturpreis, inszeniert eine Familientragödie von altgriechischer Wucht.
Hamburg

„Am liebsten hätte ich für immer in einer Zeichnung gelebt“, bekundet der dreizehnjährige Gus Sutter, als seine Welt zusammenbricht, denn in den von ihm geliebten Comicheften gibt es für jede Gefahr, für jedes außergewöhnliche Ereignis irgendeine Lösung oft bereits im nächsten Kästchen. Im Juni 1976 liegt eine katastrophale Dürre über dem Land. Die Felder vertrocknen, der Boden reißt auf, das Federvieh stirbt zu Dutzenden in der Hühnerhalle, weil die Klimaanlagen vollends überlastet sind. Und als wäre dies nicht des Schicksals genug, kommt eine viel schlimmere Bedrohung aus dem eigenen Haus, denn mit der Ankunft von Cécile, einer Freundin der Mutter, zerfällt die Familie allmählich. Am Ende mündet alles in eine Reihe tragischer Todesfälle, in Verzweiflung, Zorn, Enttäuschung und Gewalt, wie sie die altgriechischen Tragiker nicht besser hätten inszenieren können.

In einem Gespräch des SRF hat Roland Buti vor einigen Monaten erklärt, sein Roman sei „nicht autobiographisch“, er selbst sei zwar „nicht vom Land“, habe aber als Kind „oft den Sonntag auf dem Bauernhof verbracht“, so daß ihm eine Gefühl für die ländliche Umgebung  nicht fremd geblieben ist; der dramatische Plot jedoch verdankt sich, nach Butis Bekunden, nicht eigener Anschauung, ist allerdings von Vorkommnissen in seiner Verwandtschaft inspiriert. Daß eine solche Überlegung überhaupt entsteht, daß man die Geschichte nicht von vornherein als pure Fiktion abtut, beweist letztlich, wie intim letztlich die Darstellung der bäuerlichen Welt und des Innenlebens der Protagonisten ausfällt. Intim und doch vom poetischen Glanz der Beschreibungen erfüllt („Draußen war der Himmel hart wie Karton. Die Flugbahn eines Vogels hätte ihn zerreißen können“), die jegliche idyllische Verklärung indes nahezu im Keim zu ersticken verstehen.

Das Leben auf dem Bauernhof ist hart. In den Ferien muß Gus mitanpacken, statt seine zeichnerischen Ambitionen zu verfolgen. Neid auf das Violinspiel der vier Jahre älteren Schwester bleibt daher nicht aus. Der Vater, ein wortkarger, beherrschter, Ordnung liebender Mann ist zufrieden mit der kleinen, begrenzten Welt, am liebsten, so vermutet der Sohn, hätte er „mit seiner Familie in der Einöde gelebt, auf einem abgelegenen Bauernhof inmitten von Wiesen und Feldern und umgeben von dichtem Wald“. Doch nicht alle in der Familie sind für eine solche Isolation geschaffen; jeder träumt sich auf seine Weise fort von dem Hof: Die Schwester holt sich die aktuelle Mondänität durch Zeitschriften und Kosmetik ins Zimmer, der geistig zurückgebliebene Gehilfe Rudy fantasiert die Ankunft einer Gefährtin (der „Auserwählten“) herbei, der Hofhund namens Sherriff entzieht sich lieber gleich durch Ohnmachten — und die Mutter, sie sucht sich eine andere Liebe, eine Frau aus der Stadt. Nichts symbolisiert die Gefangenschaft in der Familie und die als unzeitgemäß empfundenen Traditionen des Hofes besser als die flugunfähige Taube, die Gus stets auf der Schulter sitzt.

Die alte Ordnung ist einerseits durch das Wetter bedroht, das hier das Wirken der antiken Götter in der Tragödie übernimmt, und auf der anderen Seite durch die Unausweichlichkeit der Emotionen selbst. Besonders schwer trifft die Auflösung der Ordnung den Gehilfen Rudy, der zutiefst verunsichert und verängstigt ist und kaum mehr angemessen auf Situationen reagiert, weil ihm im wörtlichen Sinne ein Vorarbeiter fehlt. Sie trifft aber auch Gus genau in jenem Moment seines Lebens, in dem er eine schützende Ordnung vielleicht am nötigsten hätte. Schnell schlägt seine Unsicherheit in Haß um, gegen die Mutter, gegen die seltsam hellsichtige Mado, bei der sich körperliche Zudringlichkeit und distanzierte Wahrnehmungen eine beunruhigende Waage halten, zuletzt auch gegen die von ihm liebevoll beschützte Taube.

Im letzten Kapitel des Romans, einem in die Zeit vorwärts springenden Epilog, wird das ganze Ausmaß der Zerstörung dieses einen Sommers sichtbar. Gus ist offenbar zu keiner Bindung fähig, seine Schwester hat ihre künstlerischen Ambitionen zugunsten eines großbürgerlichen Lebens aufgegeben, der Vater hat sich nie mehr von den Kränkungen erholt. „Ich sagte mir, dass er sich wohl in diesem Augenblick wünschte, langsam von der Erde aufgenommen und sanft in die Tiefe gezogen zu werden, um sich endlich mit den Überresten all der Männer und Frauen zu verbinden, die von diesem ehemals fruchtbaren Böden genährt wurden.“ Die Familie spiegelt letztlich nur den Zustand des Landes wider, in dem der Bauer „ein Relikt im blauen Arbeitskittel“ ist, ein Land, das genauso seelenlos unter den Hammer der Versteigerung gerät wie der Bauernhof. Ohne Gnade wurde Gus aus der Kindheit vertrieben und in die endlose Trostlosigkeit des Erwachsenseins gestoßen.

Roland Butis kleines Buch ist ein ganz großes. Lange hat ein Roman aus der Mitte Europas nicht mehr so überzeugt wie dieser. Lange hat ein Roman nicht mehr so vorbehaltlos der Kraft des Erzählens vertraut. Buti beobachtet ungemein genau und beschreibt voller Anmut und Einfühlung, nichts wirkt, trotz aller subtilen Komplexität, erkünstelt und herbeibemüht. Und die ausgezeichnete Übersetzung von Marlies Ruß aus dem Französischen tut ein Übriges, damit sich der Roman wie eine Originalfassung liest.

Roland Buti
Das Flirren am Horizont
Übersetzt aus dem Französischen von Marlies Ruß
Nagel & Kimche
2014 · 192 Seiten · 18,90 Euro
ISBN:
978-3-312-00636-6

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