„Ein Loch im Kopf ist kein Grund, die Zügel schleifen zu lassen“
Warum muss die tote Mutter eigentlich immer schön sein? Man kennt das aus Filmen oder Büchern. Es handelt sich um eine Art ungeschriebenes Gesetz. Die tote Mutter war schön. Punkt.
Sarah Stricker bricht in ihrem ersten Roman mit dieser vermeintlichen Gesetzmäßigkeit. Gleich auf der ersten Seite, im ersten Satz, heißt es da: „Meine Mutter war sehr hässlich.“ Es folgt eine so überzeugende Beschreibung der Hässlichkeit der Mutter, dass man nicht umhin kommt, es ihr zu glauben. Schön, so erfährt man am Ende des Buches, war sie nur für wenige Tage, kurz vor ihrem viel zu frühen Tod. Dann wurde sie wieder hässlich und starb.
Ein Paradox dieses an Skurrilität reichen Romans ist, dass es immer dann am lustigsten zugeht, wenn gestorben wird. Und das passiert mehrmals.
Als erste erwischt es Tante Gundl. Beim Umzug vom Pfälzischen nach Berlin, wo der Großvater nach der Wende dem Kurfürstendamm mit „Mode Schneider“ neues Leben einhauchen will, bleibt ihr Herz plötzlich stehen. Als wäre das nicht Extravaganz genug, hält die Sterbende ihre „Bagaasch“ auch noch dadurch auf, dass sie nicht, wie sich das gehören würde, auf der Stelle das Zeitliche segnen will. Obwohl man den Ärzten mehrfach versichert, dass man Gundl „wirklich, wirklich nicht leiden lassen wolle, manchmal sei es das Menschlichste, Schluss zu machen“, verzögert ihr inkonsequentes Ableben den modische Aufbau Ost um etliche Tage. Das war so nicht eingeplant. Die Überführung des Leichnams erfolgt auf dem Beifahrersitz. Ausserdem muss professioneller Ersatz fürs Geschäft gefunden – und: bezahlt! – werden. Zu allem Überdruss erweist sich dann auch noch Gundls Mann Helm als Totalausfall; er mutiert über den plötzlichen Verlust zum Alkoholiker und ist damit für die Errichtung des Berliner „Schneider Imperiums“ ebenfalls nutzlos.
Wenn es jedoch etwas gibt, für das Schneider Senior kein Verständnis hat, dann ist das – neben jeder Form von Freizeit – Nutzlosigkeit; sei es von Dingen, Tätigkeiten oder Menschen. Und er lässt keine Gelegenheit aus, seinen vorwiegend in russischer Kriegsgefangenschaft erworbenen Erfahrungsschatz mit den Seinen zu teilen. Getreu dem Motto „Was dich nicht umbringt macht dich hart“ praktiziert er auch die Erziehung seiner einzigen Tochter, von der er, wie kann es anders sein, nicht weniger als Großes erwartet. Als das Mädchen eine Feier nicht besuchen möchte, weil es dort aufgrund der für Teenager fatalen Kombination aus Hässlichkeit, altbackenen (Schneider-) Klamotten und guten Noten ohnehin nur die Zielscheibe des Spottes der Mitschüler ist, wird der Partybesuch kurzerhand zu einer Prüfung des Lebens – will heißen: Pflicht – erklärt, die es – gefälligst! – zu meistern gilt. Der Abend endet furios, mit dem Auto in der Leitplanke, und einem ersten Kuss, der für lange Zeit der letzte bleiben wird.
Die Liebe schlägt dann erst spät zu, dafür aber umso heftiger. Nicht mit dem kreuzbraven Phlegmatiker Arno, mit dem die Mutter, mittlerweile in Berlin, zusammenlebt. Sondern mit dem aus der Ukraine stammenden Alex, der ein paar Stockwerke über ihnen haust. Ihre Affäre, die im verborgenen stattfindet, weil keiner sie verstehen geschweige denn akzeptieren würde, schon gar nicht die eigene Familie, endet damit, dass Alex spurlos verschwindet und – das ist das eigentliche Novum – ein Schneider erstmals im großen Stile scheitert. Schlicht zu groß ist die Last des zusammengebrochenen Lügengebäudes, als dass damit noch ein medizinisches Staatsexamen zu absolvieren wäre. Das versäumte Examen kann nachgeholt werden, der verschwundene Geliebte hingegen bleibt, an ihn erinnert eine alte Fünfkopekenmünze in Form eines Amuletts, zunächst am Hals der Mutter, später dann an dem der Tochter.
Die zweite Tote des Buches ist die Mutter selbst, deren Geschichte hier von ihrer Tochter auf gut 500 Seiten akribisch nacherzählt wird. Dass die eiserne Disziplin des Großvater auch bei ihr Spuren hinterlassen hat, kann man daran erkennen, dass sie trotz Medizinstudiums das Familiengeschäft weiterführt. Und noch aus dem Sterbebett heraus treibt sie die Tochter unermüdlich zur Arbeit an („Von ein bisschen gewinnt man keinen Kisch-Preis“). Bis es am Ende nicht mehr geht. Die Geschichte aber, die ihr Leben ausmachte, ist zu diesem Zeitpunkt bereits fertigerzählt.
Sarah Stricker hat mit „Fünf Kopeken“ einen großartigen ersten Roman geschrieben, der leider auf keiner der Buchpreislisten auftaucht. Das ist schade. Vor allem die erste Hälfte des Buches, die Familiengeschichte, ist aufgrund ihres tragikomischen Witzes nur schwer zu überbieten. Im Stil erinnert Stricker bisweilen an Reinhard Jirgl; neben kurzen, prägnanten Sätzen stehen (Ver)Satzkonstruktionen wie die folgende:
„Sie erzählte von der Hand in ihrem Unterhemd und dem Stuhl, der auf den Boden fiel leicht war er auch darüber gestolpert so genau konnte sie sich nicht mehr erinnern konnte sie sich aber an die bösen Blicke, die ihr folgten und sie nach draußen war es so kalt war es, dass ihr die Beine zitterten, sie musste sich an der Tischkante festhalten, um nicht umzufallen, während sie weitersprach, von der vereisten Scheibe im Auto das sich drehte, und von der Michaela, die sich auch drehte, alles drehte sich vor ihr war so schwindelig reicht jetzt, rief er, es reicht.“
Kleine stilistische Schwächen birgt der Roman lediglich dann, wenn das beschriebene Milieu wechselt. Am deutlichsten wird das beim Übergang von der Familiengeschichte zur Liebesgeschichte mit Alex. Die Tonlage, in der Stricker das Familienleben beschreibt, ist, das wird schnell deutlich, ihr bestens vertraut. Das ändert sich, als sich die Handlung in die Kneipen und Lokale der Berliner Zuwanderer verlagert. Hier verliert ihre Sprache jene natürliche Souveränität, die den ersten Teil des Buches auszeichnet, die Dialoge wirken mitunter etwas hölzern. Das dürfte der eigenen Erfahrungswelt bzw. dem Fehlen derselben in der zweiten Buchhälfte geschuldet sein. Bei einer so jungen und talentierten Autorin wie Sarah Stricker, die mit „Fünf Kopeken“ ein großartiges Debüt abgeliefert hat, ist das aber noch nicht weiter tragisch.
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