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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Tanz auf den Klippen (der Interpretation)

Sólrún Michelsen, Tanz auf den Klippen
Hamburg

"Tanz auf den Klippen" überfordert mich. Dabei ist noch nicht einmal klar, ob, was mich überfordert, ein Phänomen des Kultur- bzw. Sprachentranfers ist, eine Eigenheit des persönlichen Stils der Autorin oder eine Eigenschaft ihres gewählten Stoffs.

Im weitesten Sinn liegt mit dem schmalen Roman eine Coming-of-Age-Geschichte in drei Etappen vor - das Buch beginnt mit zwei Mädchen (oder mit dem, was ein Mädchen über ein zweites zu wissen glaubt), und am Ende sind es zwei Frauen. Was die beiden umgibt, ist eine (menschlich, landschaftlich) düster-enge Inselwelt. Von ihr nun weiß ich beispielsweise nach dem Lesen nicht einmal zu sagen, ob es Michelsens Absicht ist, im Wesentlichen die zuhandene Wirklichkeit des Soziotops und der Landschaft abzubilden, sie aber durch ihre leicht surrealen, apodiktischen Stummelsätze zu "verfremden" (das würde heissen, wir blicken durch die Linse eines möglicheweise beschädigten, jedenfalls weiträumig entfremdeten Bewusstseins auf eine intakte Welt), oder ob sie eine klaustrophobe Halbschlaftraumwelt mit den Mitteln der "normalen" Konventionen "realistischen" Erzählens schildert (es wäre dann das Erzählerinnen-Ich intakt, die Welt dafür defekt). Die plausibel im Raum stehenden Möglichkeiten des unzuverlässigen Erzählens ("Ich" lügt, "sie" lügt, beide lügen) habe ich damit noch nicht einmal gestreift. Hinzu kommt noch, dass die Sprache des Romans auf einer rein klanglichen Ebene hypnotische Wirkung entfaltet, die dem distanzierten Mitdenken abträglich ist (wiederum: "magische" Inszenierung einer schlichteren Wirklichkeit, oder schlichte Inszenierung einer "magischen" Wirklichkeit?):

Er kam blau zur Welt. Ein blaues Kind. Eine Winterblume. Er war größer und stärkr als wir, aber zu nichts zu gebrauchen. Er wollte mitspielen. Wir rannten weg. Fast immer.

Sólrún Michelsen löst also eine Überforderung beim Einordnen des Gelesenen in mir aus: Soll der innere Film, den ich mir zu ihren Worten zurechtmache, in production values und "Lebensechtheit" in etwa so aussehen wie ein skandinavischer Fernsehkrimi, eine gut ausgeleuchtete Milieustudie? Oder doch eher wie eine besonders düsterer, wirklich nicht mehr für Kinder geeigneter Mummins-Film? (Es gibt da einen recht neuen, in Filzfleck-Stop-Motion, mit einem Soundtrack von - wars Björk? In ihm fliegt ein Komet an der Erde vorbei, das Ende der Welt steht als Möglichkeit im Raum, findet dann aber nicht statt, und das Beziehungsgeflecht der Familie Mummin leidet arg. Es ist das Design und die Farbpalette dieses Films, das bzw. die sich mir bei "Tanz auf den Klippen" immer wieder aufdrängt ...)

Dass der Klappentext über diesen geschilderten Effekt von Michelsens Prosa das Wort "archaisch" benutzen kann, hat damit zu tun, dass "archaisch" nicht nur bedeutet "bezogen auf eine altertümliche Welt", sondern notwendigerweise auch "bezogen auf eine Welt, die (noch) nicht mit den Mitteln der Vernunft durchschaut ist". Denn so sehr der Text mich dazu herauszuforden scheint, mir den lebenspraktisch-realen Gesamtzusammenhang der mit lustvoller Brutalität geschilderten Sachverhalte zu erschließen - wie einen Ratekrimi die Frage zu lösen, wie die Welt dieser Figuren so und so und so werden konnte - so sehr komme ich nicht dahinter. Ich stehe vor Michelsens Buch wie der sprichwörtliche Ochs' vorm neuen Tor: konfrontiert mit vielen, vielen disparaten Details, die alle erklärlich wirken - freilich in einer Weise, dass sie jeweils auch immer mit ausgesucht harschen Anekdoten verknüpft sind - aber ohne den benötigten Generalschlüssel zur Hand. Alle, alle angedeuteten Details in ihrer Eigenart schlicht auf "die harten Lebensumstände" in der "rückständigen Region" zu schieben, wäre zu billig und scheint nicht schlüssig ... keineswegs undenkbar ist, dass ich einfach zu doof bin.

Es gibt keinen guten Grund für prinzipielle Einwände gegen das, was Sólrún Michelsen mit "Tanz auf den Klippen" tut. Sie setzt äusserst kontrolliert eine Kunstsprache ins Werk, die uns herausfordert, die aber noch greifbar genug ist, um einem Narrativ untergeordnet zu bleiben. Michelsen erzeugt Spannung - dürfen wir deshalb schon von "Spannungsliteratur" reden? - und bedient sich dabei doch nicht des falsch-realistischen Erzählparadigmas. Auch ihre Hauptfigur ist alles mögliche, aber ganz sicher nicht die übliche langweilige Sympathieträgerin, mit der wir uns problemlos-kathartisch identifizieren können.

Kurzum: "Tanz auf den Klippen" ist sicherlich (wofür ich selber ein gutes Beispiel bin) nicht jedermanns Sache, ist aber (wozwar mit Sicherheit nicht prima facie "unterhaltsam" o.ä.) in jeder meß- und beschreibbaren Hinsicht O.K. und sicherlich lesenswert.

Sólrún Michelsen
Tanz auf den Klippen
Übersetzung:
Inga Meincke
Unionsverlag
2015 · 160 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-293-00482-5

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