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Kritik

Keine Kulturgeschichte des Exils

Stefan Zweigs letztes Adressbuch reicht von Alfred Agache bis Friderike Zweig und ist leider voller Fehler
Hamburg

Was für ein Zufall, dass dieses Buch jetzt publiziert wurde. Oder auch nicht. Denn der eindringliche Film über Stefan Zweigs Jahre im Exil, "Vor der Morgenröte", hat sehr viel Aufmerksamkeit erregt, bis hin zu Hoffnungen auf einen Oscar. Da passt es doch sehr gut, dass jetzt auch sein "letztes Adressbuch" veröffentlicht wird. Normalerweise ist so etwas nur für Zweig-Spezialisten interessant, möglicherweise hofft der Verlag wegen des Films auf eine größere Käuferschar.

In seinem Adressbuch, das Zweig in London oder New York gekauft und bis zu seinem Freitod in Brasilien geführt hat, stehen laut Herausgeber 158 Personen, mit denen er in seiner Exilzeit Umgang hatte, direkt, telefonisch oder per Brief. Immer wieder wurden Anschriften geändert, vor allem, nachdem Paris von den Nazis eingenommen wurde und viele deutsche Emigranten von dort fliehen mussten. Die Einträge reichen von Alfred Agache, einem französischen Architekten und Städteplaner, über Zeitungen und Verlage wie "Aufbau" oder "Bermann Fischer", der die Rechte an Zweigs Büchern hatte, bis Paul Zech, Alfred und Friderike Zweig, Stefan Zweigs erste Frau.

Es sind einige Berühmtheiten darunter, auch viele Unbekannte, die Zweig unterstützten oder ihm halfen, Visa für europäische Exilanten zu bekommen. Viele Adressen von Brasilianern stehen im Adressbuch, die uns heute nichts mehr sagen, auch wenn sie damals für das Land bedeutend waren. 1936 ging Zweig das erste Mal nach Brasilien, als Tourist, bis er 1940 über England, New York, Argentinien und Paraguay mit einem Dauervisum zurückkehrte - er war dort als einer der größten lebenden Schriftsteller empfangen worden, und der vorliegende Band behauptet (ohne Belege), er habe einen großen Einfluss auf die brasilianische Literatur gehabt. Berühmt machte ihn vor allem das Buch "Brasilien", das er dort schrieb, in dem er sein Exil-Land als eines der fortschrittlichsten der Welt lobte und das gleichzeitig in mehreren Sprachen erschien.

Interessant ist, wer fehlt. Da das Adressbuch für das Exil angelegt war, stehen einige seiner früheren Freunde nicht drin: Hermann Hesse, aber auch Romain Rolland, mit dem er bis zu dessen Annäherung an den Stalinismus Anfang der dreißiger Jahre eng befreundet war, fehlen, ebenso etwa sein alter Freund Emil Fuchs, mit dem er früher im Café Mozart immer Schach spielte. Es gebe, so die Herausgeber, kein erkennbares Muster, wer in dieses neue Adressbuch (es gibt noch ein sogenanntes "englisches Adressbuch") aufgenommen wurde und wer nicht.

Nach zwei Vorworten, die teilweise das selbe erzählen, folgen die faksimilierten Seiten des Adressbuchs und danach kurze Biografien der genannten Personen. Das ist sicher eine Fundgrube und sehr lehrreich. Aber hier fängt es auch an, merkwürdig zu werden. Es stimmen nämlich nicht alle Fakten, und manches erscheint ohne weitere Erklärung, sodass das Buch mehr Fragen aufwirft als beantwortet. So heißt es von Therese Altmann, der Mutter von Zweigs zweiter Frau Lotte, dass sie auf

die Briefe von Lotte (und die liebenswürdigen Nachsätze des Schwiegersohns)

nicht antwortete. Man wüsste gern, warum. Bei Raoul Auernheimer, einem Mitglied der Schriftstellergruppe "Jung-Wien" steht:

Seine Korrespondenz mit Zweig begann 1905 und umspannte mehr als vier Jahrzehnte

… was bedeuten würde, dass sie über 1945 hinausging - Zweig starb aber schon 1942. Gottfried Bermann Fischer wird als

einer der bedeutendsten Verleger aller Zeiten

bezeichnet, das könnte man sicher auch weniger pathetisch ausdrücken, ebenso müsste man nicht Sigmund Freud oder Stefan Zweig als "Meister" bezeichnen. Und es wird berichtet, dass Bermann Fischer Autoren in Wien herausbrachte,

die in Deutschland bereits verboten waren

wie Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal und auch Hermann Hesse. Hesses Werke waren aber nicht verboten, sondern nur "unerwünscht", es erschienen immer wieder Neuauflagen, u.a. 1942 "Knulp". 1950

brach er endgültig mit Peter Suhrkamp

der einen Teil des Verlags weitergeführt hatte - warum, und warum endgültig? Wenn man Teile dieser Biografie mit dem entsprechenden Wikipedia-Artikel parallel liest, fällt einem eine ziemliche Ähnlichkeit auf, bis hin zur Wortwahl und dem Zitat.

Im Artikel über Ernst Cahn wird erst lang und breit erklärt, wer das gewesen ist (ein sehr spannender Mensch: Mitglied des niederländischen Widerstands und Besitzer einer Eisdiele in Amsterdam), bis ganz am Schluss gesagt wird, dass es sich höchstwahrscheinlich um einen anderen Ernst Cahn handelt. Das klingt wie Satire, ist es aber nicht. In der Biografie von Jacques Chambrun wird auch dessen Frau erwähnt, hier heißt sie "Clara Langworth" und ist

Enkelin von Theodore Roosevelt, Shakespeare-Expertin mit akademischen Titeln.

In Wirklichkeit hieß sie Clara Longworth, hatte an der Sorbonne einen Doktortitel erworben und war nicht Enkelin des Präsidenten, sondern ihr Bruder hatte Roosevelts Tochter Alice geheiratet. Und, um noch ein letztes Beispiel für den etwas seltsamen Stil zu nennen, in der Biografie von Zweigs erster Frau Friderike heißt es:

Die Geschwister (...) wurden weit entfernt von Kirche oder Tempel erzogen, und entsprechend verhielten sie sich auch.

Was das bedeuten mag, bleibt dem ratlosen Leser überlassen.

Das waren nur wenige Beispiele von wenigen Seiten, grobe Schnitzer, die einem sofort ins Auge fallen oder die man durch einen Blick in ein gutes Lexikon falsifizieren kann. Angesichts dieser Fülle müsste man eigentlich auch alle andere Daten noch einmal überprüfen - eine Aufgabe, die das Lektorat hätte machen müssen. So ist das Adressbuch leider fast unbrauchbar, eine verpasste Gelegenheit. Und das ist schade, denn man hätte ja aus Zweigs Adressbuch eine schöne Kulturgeschichte des Exils schreiben können, die Namen intelligent und lebendig miteinander verknüpfen, ein Bild von den alten, neuen und wichtigen Kontakten malen, die Zweig zwecks seines Überlebens – und dessen der anderen Exilanten – pflegen musste, die Freunde, die er fand, die völlig neuen Lebensumstände in einem fremden Land und in einer fremden Sprache. Und wie es diesen von Depressionen geplagten Mann dann trotz seiner Kontakte und seines Ruhms Anfang 1942 mit seiner Frau zusammen in den Freitod trieb.

Stefan Zweig · Alberto Dines (Hg.) · Israel Beloch (Hg.) · Kristina Michahelles (Hg.) · Klemens Renoldner (Hg.)
Stefan Zweig und sein Freundeskreis
Sein letztes Adressbuch 1940–1942
Übersetzung:
Stephan Krier
Hentrich & Hentrich
2016 · 240 Seiten · 27,90 Euro
ISBN:
978-3-95565-134-3

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