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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Still confused, but on the highest level

Stephan Thome erzählt in seinem zweiten Roman vom Zusammenleben und Zusammenbleiben
Hamburg

Hartmut Hainbach hat einiges erreicht in seinem Leben. Und er ist zu Recht stolz darauf. In den Berichten der Politik würde er ein gutes Beispiel dafür abgeben, dass Aufstieg durch Bildung, trotz aller gegenteiligen Unkenrufe, nach wie vor möglich ist. Aus sogenannten „einfachen Verhältnissen“ stammend hat er es, nach seiner Promotion in den USA – Steckenpferd: Sprechakttheorie – und einigen kurzen akademischen Zwischenstationen in der nordrhein-westfälischen Provinz, zum angesehenen Professor für Philosophie an der Universität Bonn gebracht. Dass das manchen seiner arrivierten Kollegen, die die Universität gerne weiterhin als Kaderschmiede einer kleinen Elite betrieben hätten, nicht behagte, überrascht nicht; aber sowohl sein noch junges Alter als auch der politische und gesellschaftliche Zeitgeist standen auf seiner Seite. Die alten Kollegen wurden einer nach dem anderen ausgemustert, Hainbach aber blieb, sitzt fest im Sattel und gehört mittlerweile selbst zum Establishment. Sein Eigentumshäuschen steht, trotz kleiner Mängel an der Bausubstanz, in bester Bonner Lage, die Tochter studiert in Hamburg, und Maria, seine portugiesische Frau, gibt hin und wieder Kurse an der örtlichen Volkshochschule. Die einzige nennenswerte Niederlage in seinem Berufsleben, der verpasste Ruf ins Berlin der Nachwendezeit, war zwar schmerzlich, zumal einer Intrige geschuldet, letztendlich aber doch verkraftbar. Mittlerweile geht Professor Hainbach auf die sechzig zu und freut sich darauf, seinen baldigen Ruhestand unter der Sonne Portugals zu genießen. Die paar Jahre, die es noch dauert, muss er die kruden Arbeiten seiner chinesischen Doktoranden – Thema: Wie Hegels Weltgeist nach China gelangte – eben noch ertragen.

Doch wird schnell klar: Das Idyll ist trügerisch. Zwar gibt es keine Leichen bei den Hainbachs im Keller und mit außerehelichen Vergnügungen haben die beiden auch nichts am Hut (wenngleich Hartmut einmal kurz in Versuchung gerät). Stattdessen aber hat sich der Schleier der Langeweile langsam, unaufhaltsam über ihrem Leben ausgebreitet. Und was Hartmut eines Tages im hauseigenen Keller findet, ist für ihn ohnehin schlimmer als alle verborgenen Leichen der Welt zusammen: Eine Kiste mit DVDs kitschiger US-Seifenopern, die sich seine Frau Nachmittag für Nachmittag, wenn er in seinem Unibüro sitzt, ansieht; zur Verschleierung ihres aus bildungsbürgerlicher Sicht schwer entschuldbaren Tuns verschiebt Maria das Lesezeichen im strategisch auf dem Wohnzimmertisch platzierten Knut Hamsun-Band täglich ein kleines Stück weiter nach hinten.

Das alles erfährt Hartmut jedoch erst, als er sich bereits in einer Wochenendbeziehung befindet. Denn Maria hat mittlerweile das Angebot ihres ehemaligen Lebensgefährten, des Skandal-Intendanten Falk Merlinger, angenommen, und arbeitet für einen Hungerlohn als Mädchen-für-alles (offiziell nennt sich das dann Kommunikation) an einem Berliner Theater. Doch als wäre es nicht genug, dass Maria den Großteil ihrer Zeit abseits von Bonn verbringt, muss Hartmut ihr, da das Theater-Auskommen hinten und vorne nicht ausreicht, diese - in seinen Augen – Extravaganz auch noch mit seinem Professorengehalt finanzieren. Nicht zuletzt darüber kommt es zwischen den beiden schließlich zum großen Knall, und das genau an dem Tag, als sie auf der Hochzeit des Sohnes von Hartmuts bieder-spießiger Schwester Ruth der versammelten Verwandtschaft ihr funktionierendes Eheleben vorgaukeln wollen.

Die Kulmination der bis dahin unausgesprochenen Vorwürfe und Aggressionen ist der Ausgangspunkt des Romans von Stephan Thome, der den Leser in zahlreichen Zeitsprüngen von Hartmuts Promotion in den frühen 1970er Jahren bis nach Portugal führt, wo Hartmut und Maria, zunächst jeder für sich, dann beide zusammen, versuchen, sich über ihr weiteres Leben und Zusammenleben Klarheit zu verschaffen. Da es diese Klarheit aber nicht geben kann, ist der Prozess der Annäherung an die eigenen Positionen, Wünsche und Ziele das eigentliche Thema des Buches.

Während Maria ihre Theatertruppe nach Kopenhagen begleitet, macht Hartmut sich auf den Weg nach Paris, um seine erste Liebe, Sandrine, noch einmal zu treffen. In der Tasche hat er das Angebot eines Freundes, in dessen Berliner Verlag die Leitung des Philosophieprogramms zu übernehmen. Die Stelle bedeutete weniger Geld und eine beträchtliche Einschränkung der Versorgungsleistungen – Hartmut hat sich das genau durchrechnen lassen –, gleichzeitig aber die Möglichkeit, dauerhaft mit Maria zusammenzuleben. Der Schritt will wohlüberlegt sein. In Paris erwartet ihn eine alte Frau, die sich gerade erst von einem Schlaganfall erholt hat, immer noch schön, aber gebrechlich. Am nächsten Morgen geht es westwärts, an die Atlantikküste, zu einem früheren Bonner Kollegen. Der hatte vor einigen Jahren seine Juniorprofessur hingeschmissen, um ein Weinlokal am Meer bei Bordeaux zu eröffnen. Aus dem stilvollen Weinambiente wurde eine billige Touristenkneipe, mit Bob Marley-Klängen und Happy Hour. Doch hat Bernhard, so der Name des Kollegen, mittlerweile die Frau kennengelernt, mit der er den Rest seines Lebens verbringen möchte. Er glaubt – oder besser: redet sich ein –, die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben; sicher ist er sich da freilich nicht. In Portugal angekommen, erfährt Hartmut von Maria, dass sie es war, die dem gemeinsamen Verleger-Freund vorgeschlagen hatte, Hartmut die Stelle in Berlin anzubieten – und auch, dass dieser inzwischen von seinem Angebot zurückgetreten ist. Das Leben in Bonn wird also weitergehen, das Haus nicht verkauft werden; ob Maria am Theater festhält, bleibt – wie so vieles in diesem Roman – offen.

Verzichtet man darauf, sich selbst zu belügen, bietet das Leben im Grunde nur wenige Gewissheiten; für das menschliche Zusammenleben gilt das sowieso. Welche Entscheidungen die richtigen sind, lässt sich in Ermangelung alternativer Erfahrungen nur in den seltensten Fällen abschließend beurteilen – zumal wenn das Leben in so geordneten Bahnen verläuft wie im Falle des auf Lebenszeit verbeamteten Intellektuellen Hartmut Hainbach.

Stephan Thome erweist sich auch in seinem zweiten Roman – nach „Grenzgang“ (2009) – als ein Meister der realistischen Ernüchterung. Dabei setzt er vor allem auf den Dialog seiner Figuren, der sich bisweilen über mehrere Seiten erstreckt. Meistens gelingt ihm das auch. Doch obwohl – oder vielleicht: gerade weil – Thome ein exzellenter Dialog-Schreiber ist, überspannt er den Bogen bisweilen; zumal bei der Beschreibung menschlicher Sinnsuche die Gefahr ins Triviale abzugleiten allgegenwärtig ist. So erklärt Sandrine Hartmut bei dessen Paris-Besuch, dass sie doch gerne wie andere Frauen wäre: „ein bisschen heulen und dann zum Friseur gehen. Neue Schuhe kaufen. Wer aus materiellen Dingen Trost ziehen kann, hat wirklich Glück.“ Und Anne, ebenfalls eine frühere Geliebte, schilderte ihm ihre nicht minder verworrene Gemütslage in den Worten: „Was sind eigentlich meine Probleme? Ich schaffe es nicht, das Leben zu leben, das ich gerne leben würde, so viel ist klar. Aber liegt das an mir oder an meiner Mutter? Ist es Schicksal?“ Wohlgemerkt, in beiden Fällen sind es erwachsene Frauen, nicht Teenager, die das sagen. Glücklicherweise sind derlei psychologisierend-existentialistische Allgemeinplätze aber die Ausnahme.  

Als vor einigen Jahren der Fortsetzungsband von Florian Illies‘ „Generation Golf“ erschienen ist – die Protagonisten waren mittlerweile in ihren Dreißigern angekommen –, lautet die Essenz der Geschichte: „We are still confused, but on a higher level.“ In Stephan Thomes neuem Roman „Fliehkräfte“ kann man getrost auf den Superlativ zurückgreifen.

Stephan Thome
Fliehkräfte
Suhrkamp
2012 · 474 Seiten · 22,95 Euro
ISBN:
978-3-518423257

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