Gretel wird erwachsen
Kriegsheimkehrer Frank ist gefangen in einer Schwarz-Weiß-Welt. Wenn die Erinnerungen an die Gräuel, die er im Koreakrieg erlebt und selbst begangen hat zu übermächtig werden, läuft aus der Welt die Farbe aus. Das übermächtige Rot weicht dem erträglicheren Grau in Grau, wenn auch somit das Leben insgesamt seine Farbigkeit einbüßt.
Um der Stupidität und dem Rassismus in seinem Hundertseelen Dorf Lotus in Georgia zu entkommen war Frank mit seinen beiden besten Freunden in die Armee und den Krieg geflüchtet. Von den Dreien kehrt er als einziger lebend zurück. Von nun an plagt ihn das Schuldgefühl überlebt zu haben. Traumatisiert und bündelweise Dämonen im Gepäck findet er sich nach der Rückkehr aus einer integrierten Armee, in der die Hautfarbe für kurze Zeit keine Rolle gespielt hatte, in einem immer noch von Rassentrennung und Ressentiments geprägten Amerika am Vorabend der Bürgerrechtsbewegung nur schwer zurecht. Die innere Schwarz-Weiß-Welt korreliert mit der äußeren, in der er grundlos wegen „Landstreicherei“ verhaftet werden kann, oder von der Benutzung bestimmter Gaststätten und Toiletten ausgeschlossen ist. Einer Welt, in der Farbige noch immer wie Sklaven verschleppt und zu Wettkämpfen auf Leben und Tod genötigt werden. Der Krieg setzt sich, trotz Rückkehr, weiter fort.
Halt und kurzzeitige Erleichterung findet in den Armen einer Frau. Aber trotzdem. Immer wieder kam sie nach Hause und sah, dass er völlig untätig war, nur auf dem Sofa hockte und den Teppich anstarrte, und das zerrte an ihren Nerven. Da erreicht ihn die Nachricht, dass seine jüngere Schwester Ycidra, genannt Cee, in Gefahr schwebt und vielleicht schon tot ist, wenn er jetzt trödelt.
Ohne Geld und soeben aus einer psychiatrischen Anstalt entflohen, macht sich Frank auf den Weg nach Hause. Eine Reise die er seit seiner Rückkehr immer wieder aufgeschoben hatte. In loser Folge werden nun Erinnerungen an den Koreakrieg und die von bitterer Armut und Rassismus geprägte Kindheit in Lotus erzählt. Während die Eltern, die zuvor aus Texas vertrieben worden waren, bis zum Umfallen arbeiten, werden die beiden Kinder von ihrer bösen Stiefgroßmutter Lenore betreut. Die hat es vor allen Dingen auf Cee abgesehen. Das „Rinnsteinkind“, wie sie es nennt, da es auf der Flucht geboren wurde, kann es ihr nie recht machen und ist Zielscheibe ständiger Erniedrigungen. Als derart wertlos abgestempelt nimmt Cee diese Rolle im Laufe der Jahre auch an. Heiratet den erstbesten Taugenichts, der in Wahrheit nur hinter dem Auto der Familie her ist und gerät zuletzt in die Fänge eines rassistischen Arztes, der sie für seine dubiosen Experimente benutzt. Frank muss zum letzten Mal die Rolle des großen Bruders, des Beschützer und Retters in der Not spielen, der sie, wie schon in der Kindheit in die Arme nimmt und ihr die Finger auf den Scheitel legt.
Nicht weinen, sagten diese Finger; die Striemen verschwinden wieder. Nicht weinen; Mama ist müde, sie hat’s nicht so gemeint.
Heimkehr, der jüngste Roman der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison, ist ein düsteres Geschwistermärchen. Angesiedelt am Vorabend der Bürgerrechtsbewegung, entpuppt es sich als die Emanzipationsgeschichte Gretels. Von Frank aus den Fängen des Arztes gerettet, darf Cee erkennen, dass ihr nun lange genug ihre Wertlosigkeit von außen eingeredet wurde. Wer hat dir eigentlich erzählt, dass du nichts wert bist? und wer hat das Recht zu bestimmen, was ein Mensch wert ist, lauten auch in diesem Roman Toni Morrisons die zentralen Fragen. Und wieder, wie in ihrem großen, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman Menschenkind, ist es eine Gruppe weiser alter Dorffrauen, die der Protagonistin zum Durchbruch in ihrem physischen und psychischen Genesungsprozess verhelfen. Mit ihrer zugleich ruppigen und tiefreligiösen Art, mit archaisch-magischen Heilmethoden, wie z.B. sich den versehrten Schoß von der Sonne küssen lassen, erwacht Cee aus ihrem Dornröschenschlaf der Passivität. Am Ende der Behandlung im Kreis der Frauen erkennt sie: Selbstwert kann einem letztlich nur von sich selbst gegeben oder genommen werden und kann somit auch Frank aus seiner Beschützer Rolle entlassen.
In einer solchen Welt mit solchen Menschen wollte sie jemand sein, der nie wieder gerettet werden musste . . ., sie wollte diejenige sein, die sich selbst rettete.
Frank wird frei und darf sich nun seinen eigenen Dämonen und der Wahrheit stellen. In kursiv gesetzten Passagen hatte er zuvor dem Erzähler immer mal wieder mitgeteilt, was er erzählen und beschreiben soll. Nun stellt sich heraus, dass die Quelle des Erzählers eine unzuverlässige war.
Mit Heimkehr setzt Toni Morrison den mit Jazz begonnenen Zyklus, in dem sie die Situation der Farbigen in den USA in einem jeweils anderen Jahrzehnt beleuchtet, fort. Wie auch schon in Liebe und Gnade wird neben der nachwievor vorhandenen wuchtige poetischen Sprachkraft und den eindringlichen brachialen Gewaltszenen, in dem den Geschwistern gewährten Happy End zunehmend auch eine altersmilde Toni Morrison erkennbar.
Fixpoetry 2014
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben