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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Hachschara Ahrensdorf - Auf dem Weg ins Überleben

Urs Faes schreibt in seinem Roman „Sommer in Brandenburg“ wie jüdische Jugendliche sich auf ihr Leben in Palästina vorbereiten
Hamburg

Sie waren zwischen 14 und 18 Jahre alt. Ihre Eltern stimmten zu, dass sie auswandern würden, ohne sie - nach Palästina. (Israel wird erst 1948 proklamiert. S.T.) Manchen Jugendlichen war bis dahin gar nicht klar, dass sie Juden sind. Viele ihrer Eltern hatten sich christlichen Religionsgemeinschaften angeschlossen. Doch Hitlers nationalsozialistisches Rassendenken sortierte sie aus. Über einen jüdischen Pfadfinderbund kamen sie ins Landwerk Ahrensdorf in Brandenburg. Der Schweizer Schriftsteller Urs Faes verfolgte ihre Lebenslinien, suchte das Gespräch mit Überlebenden, sichtete Unterlagen und Akten, um ihre Geschichte zu erzählen. „Sommer in Brandenburg“ ist ein Roman, der auf Fakten und tatsächlichen Lebensgeschichten beruht.

Von 1936 bis 1941 lebten mindestens 268 Jugendliche im Landwerk, manche zwei, drei Jahre, andere weniger. Knapp die Hälfte schaffte es nach Palästina, weitere 60 kamen nach Schweden und England oder überlebten Konzentrationslager und andere Lager.  Das Schicksal von fast einem halben Hundert der „Landwerker“ ist unbekannt.

„Wir lebten wie auf einer Insel in einem immer stürmischer werdenden Meer“, schreibt Ester D. aus Tel Aviv. (1936 bis 1938 in Ahrensdorf) Ron aus Hamburg ist von Anfang an dabei, der Tagesablauf ist stark reglementiert. Zeitig aufstehen, im Landgut arbeiten, nachmittags lernen. Sie sollen vorbereitet sein auf die Pionierarbeit in den Kibbuzen in Palästina, Sprache lernen - Englisch und Hebräisch und nicht zuletzt die jüdische Religion, die den meisten von ihnen bisher unbekannt war. Lissy kommt aus Wien und fällt in ihren Seidenstrümpfen auf dem Gut auf, so was trägt hier keine. Sie weiß nichts über das jüdische Leben, gearbeitet hat sie auch noch nicht: „Wir haben Schnitzler gelesen. Und ich höre viel Musik, von Strauß und Alban Berg.“, sagt sie in ihrer ersten Begegnung Ron.

Zwischen beiden entwickelt sich eine zarte Beziehung, sie stützen sich gegenseitig, wenn der Kummer über die in Wien und Hamburg verbliebenen Familienmitglieder sie überwältigt. Er schreibt und sie liest, was er schreibt. Diese Liebesgeschichte, das Zentrum des Romans, ist nicht erfunden. Urs Faes fand Fotos, die in Ahrensdorf von einem jüdischen Fotografenpaar aufgenommen wurden. Auf einem Foto sind Ron und Lissy gemeinsam abgebildet. Auch erinnern sich Überlebende an das Paar.

Sehr schön gelingt es dem Autor die Gemeinschaft, den Zusammenhalt der Landwerker darzustellen, bei all ihrer Verschiedenheit. Die Angespanntheit, wenn die Liste der nächsten Ausreisenden verlesen wird. Den Schmerz, wenn die wenigen Paare, die sich dort gefunden haben, getrennt wurden. Es gab auch einen illegalen Weg über eine Schiffspassage auf der Donau und weiter nach Palästina zu gelangen. Wenigen ist es gelungen. Ron lehnt diesen Weg ab, auch als Lissy vor ihm auswandern darf. Vielleicht aber hätte er auf diesem Weg überlebt. Denn während Lissy in einem Kibbuz eintrifft, verliert sich seine Spur, nachdem er 1941 mit anderen genötigt wurde, das Landwerk aufzulösen.

Mit diesem Roman wird ein neues Puzzleteil zum - ja irgendwie immer unvollständiger werdenden - Bild der Vergangenheit, der Zeit des Nationalsozialismus hinzugefügt. Dass jüdische Mädchen und Jungen mitten im nationalsozialistischen Deutschland - im preußischen Brandenburg ein, wenn auch hartes, doch aber beschütztes Leben in Gemeinschaft führen konnten mit der Aussicht, das Land zu verlassen und der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entkommen, um ein neues Leben aufzubauen, war bisher nicht so bekannt.

Dass auch der Dorfpolizist ein Nazi war, wird nicht verschwiegen, aber auch nicht, dass er den jüdischen Jugendlichen zugetan war und sie beispielsweise vor der Pogromnacht im November 1938 warnte. Die erwarteten Schrecken blieben im Landwerk weitgehend aus. Doch die Nachrichten aus den jüdischen Familien aus vielen Teilen Deutschlands ähnelten sich und verstärkten die Sorgen um die Angehörigen, die abgeholt und oft seelisch gebrochen wurden.

Im Grunde ist „Sommer in Brandenburg“ ein Jugendroman. Sei es, dass man Jugendlichen ein solches Thema nicht zumuten möchte, nicht zutraut, sei es, dass man den umgekehrten Weg des All-Age-Romans gehen will: Ein Roman für Erwachsene, den dann auch Jugendliche lesen können. Oder weil der Roman als Jugendroman einfach nicht die erhoffte Öffentlichkeit bekommen würde. Es geht um Jugendliche in einer Umbruchssituation, mit Angst vor der Zukunft, mit Sorgen um Angehörige, um erste Liebe, ja, auch um das Erste Mal. Oder, weil Suhrkamp eben keine Jugendromane realisiert. Das Thema ist es unbedingt wert, dass den Protagonisten gleichaltrige junge Menschen das Buch lesen.

Hachschara heißt Umschichtung. Die jungen Menschen werden „umgeschichtet“ aus einem Land, indem sie unerwünscht sind und verfolgt werden, in ein neues Land, das ihnen ein Überleben garantieren kann. Dass die Zeit der „Umschichtung“ auch eine schöne Zeit sein kann, bestätigen die Überlebenden, dass dies ein erfolgreiches Konzept war, zeigt die Zahl der Überlebenden.

Ein neues Puzzleteil schärft das Bild der Vergangenheit, aber es offenbart wieder neue Lücken, es fehlen doch noch viele Puzzleteile. So wird die Forschung sich noch der unbekannten Schicksale der Ahrensdorfer Landwerker annehmen. Aber auch ein Verein, der sich 1989 gründete: der Förderverein Hachschara Landwerk, dessen Mitglieder aus den USA, Israel, Schweden und Deutschland kommen und der die Geschichte der Landwerker vor dem Vergessen bewahrt. Sie treffen sich in Ahrensdorf und vor einigen Jahren wurde im ehemaligen Landwerk eine Stele eingeweiht.

Urs Faes
Sommer in Brandenburg
Suhrkamp
2014 · 262 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42419-3

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