Das Leben ist kein Spiel
Die Freunde Jenică, Tili und Maca, drei nicht mehr ganz junge Ingenieure, hüpfen von Blatt zu Blatt, ohne den Boden zu berühren. Es ist "Das Spiel der hundert Blätter", wie der Roman des rumänischen Autors Varujan Vosganian heißt. Darin stellt er die tödlich verlaufende Flucht des vierten Freundes Luca aus Ceausescus Rumänien in den Mittelpunkt und schildert zugleich das prekäre und sinnentleerte Leben der Hauptpersonen im postkommunistischen Land.
Zwanzig Jahre sind seit der Flucht vergangen, als Tili zum ersten Mal in den Archiven der Securitate die sogenannte Observationsakte lesen darf. Er erfährt, dass sie alle vier schon lange beobachtet worden waren und dass ein Revierpolizist Luca verraten hatte. Detailliert beschreibt Vosganian die Methoden der Überwachung und der späteren Verhöre, bei denen die Folterer ihre Zigaretten in den Händen der drei Freunde ausdrückten. Da sie nichts mehr von Luca gehört hatten, glaubten sie – genauer: wollten sie glauben – es sei ihm geglückt, die Donau zu durchschwimmen. Aber jetzt erfahren sie, dass Luca bei seinem Fluchtversuch erschossen wurde.
»Als spielte er immerzu weiter, träumte Jenică. »Erinnerst du dich, was der Fischer uns gesagt hat, der ihn gefunden hatte? Dass er in Blätter eingehüllt war. Es war ihm gelungen, bis an den Rand des Flusses zu gelangen, seine rechte Hand lag bis zum Gelenk in der Donau.«
Das Bild der Blätter durchzieht, neben zahlreichen anderen Bildern, den gesamten Roman. Sie sind schwer, kleben auf dem Asphalt und werden schließlich immer weniger, weil es keine Bäume mehr gibt. Für die drei Männer ist das Leben kein Spiel. Ihre Fabrik wurde, wie viele andere, geschlossen; als Ingenieure finden sie keinen Job, so dass sie entweder wie Maca arbeitslos sind oder anderen Berufen nachgehen. Tili arbeitet bei einem Puppenmeister, bei dem er für die Puppen Namen erfinden muss, und Jenică soll in einem Kiosk Lose verkaufen, sieht aber seine Aufgabe darin, die Menschen davon abzuhalten, ihr Geld für die vergebliche Suche nach Glück auszugeben. Alle leben in äußerst armseligen Wohnungen.
Die Dunkelheit wuchs anscheinend aus den morastigen Dreckslöchern auf der Straße, die trüben Glühbirnen in den Wohnungen vermochten kaum die Fenster zu beleuchten, und weil kein Wind wehte, hielten Dunkelheit und Licht sich jeweils mit einem Gefühl der Unzufriedenheit beiseite.
Metaphern kann man im Unterschied zu Menschen keine Handschellen anlegen, heißt es an einer Stelle, und dies könnte das Motto des Romans sein. Denn vor dem Hintergrund der realen Geschichte erzählt der Roman sehr bildhaft und in Gleichnissen von den großen Themen des Lebens: Von Tod, Glück und von Menschen, die vor vielem Angst haben und vergeblich ihre Identität in diesen unsicheren Zeiten suchen. In Zeiten,
in denen die Vergangenheit schwerer wiegt als die Zukunft.
Gleichzeitig die Schwelle zwischen zwei Jahrhunderten, zwei Jahrtausenden und zwei Lebensweisen zu überschreiten ist keine Kleinigkeit.
Der äußerlich verwahrloste Maca betrachtet in einer Kirche Fresken:
Bei den anderen musste Maca sich etwas anstrengen, um sich an sein eigenes Gesicht aus der Zeit zu erinnern, als er sich noch rasierte. Es wollte ihm nicht gelingen, und die Gestalten auf den Fresken kamen ihm auch nicht zu Hilfe. Da fiel ihm ein, dass er sich schon lange nicht mehr im Spiegel betrachtet hatte. Es gab eine Zeit, da hatte er sich jeden Morgen angeschaut. Jetzt hatte er keinen Spiegel im Bad mehr.
Auch bei Jenică benutzt Vosganian das Bild des Spiegels, um dessen Entfremdung darzustellen:
Die Person im Spiegel kam ihm nicht vertraut vor, und der forschende Blick des anderen ließ ihn vermuten, dass er ihm nicht sonderlich vertraut war. Beide schauten sich mit einer gewissen Enttäuschung an.
Mit Tilis Blick in einen Spiegel endet der Roman:
Der Puppenmeister hatte einen Spiegel aus der Kiste geholt. Tili sah sich selbst, und zum allerersten Mal fiel ihm kein Name ein. Er bemühte sich, etwas zu finden, aber er spürte, es war zu spät. Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und stöhnte. Die Welt, mit oder ohne ihn, auch unbenannt, existierte weiter…
Eine weitere Metapher, die im Roman eine wichtige Rolle spielt, ist die des Eilzuges nach Bukarest, der seit der Kindheit der vier Freunde ohne anzuhalten durch ihre Stadt fährt. Denn auf diesen Zug ist Luca bei seiner Flucht in den Tod aufgesprungen.
Und da gibt es noch die Schatten, die die Menschen verfolgen. Maca rammt
das Messer an der Stelle in die Wand, wo sich der Hals seiner Schattengestalt befinden musste.
Als Maca, Tili und Jenică dem Revierpolizisten auflauern und ihn in den Tod treiben, wird das Bild des Schattens mit dem des Zuges miteinander verbunden. Der Spitzel wird von Schatten bedrängt, die alle Lucas Gesicht tragen. Unter dieser Last wirft er sich schließlich unter den Zug.
Jeder der Protagonisten verzweifelt auf seine Art. In einer grotesken Szene hüpft Maca mit einer Plastikente auf der Straße herum und genießt, dass der ganze Wohnblock sich in Flüchen ergeht. Kurz darauf wird er die alte Fabrik anzünden.
Zuvor hat sich Jenică die Pulsadern aufgeschnitten. In dieser geradezu kafkaesken Sterbeszene kommt Vosganian auf sein Hauptmotiv der hundert Blätter zurück. Völlig außer sich, von einem Fremden, dem anderen, angestachelt, öffnet Jenică alle Lose.
Er war bei 99 angelangt. Noch ein Blatt war ihm verblieben, und das Spiel konnte beendet werden. Immerhin war es merkwürdig, dass die vom Boden aufgelesenen Blätter, die dann wieder unter den Schritten landeten, vergilbt waren und einen roten Rand hatte. Den Losen fehlte das Rote, was dazu führte, dass etwas in diesem Spiel nicht zusammenpasste. Dieser Makel störte ihn, und es lag in seiner Macht, daran etwas zu ändern. Er ließ die Schere nah an seinem Handgelenk klappern, dort, wo die Farbe Rot nahebei und zuhand war.
Varujan Vosganian hat einen sehr durchkomponierten Roman geschrieben, in dem die Handlung durch immer wieder auftauchende und ineinander verbundene Bilder und Motive über das eigentliche Geschehen hinaus geweitet wird. Deshalb hätte es meiner Meinung nach die beiden im Roman enthaltenen Geschichten, die über den silbernen Zug und die über den Tod nicht bedurft, denn der Leser versteht auch ohne sie, worum es dem Autor geht.
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