Ortlose Beschreibungen
Es zeugt von nicht geringem Selbstvertrauen des Übersetzers und von einer enormen Risikobereitschaft des Verlages, nach der erst vor drei Jahren erschienenen Sammlung „Hellwach am Rande des Schlafs“, die Joachim Sartorius herausgegeben hat, eine weitere großzügige Ausgabe mit Gedichten von Wallace Stevens zu veröffentlichen. Indes liegen die Vorteile auf der Hand: anders als beim Vorgängerband zeichnet nun bloß noch ein einziger Übersetzer verantwortlich, so daß eine gleichbleibende Stimmlage gewährt ist, und tatsächlich ist in vielen Fällen dort, wo ein Vergleich möglich ist, die von Rainer G. Schmidt gefundene Lösung eleganter und genauer. Es empfiehlt sich dennoch, beide Bände im Regal zu behalten, denn auch die Hanser-Ausgabe wartet durchaus mit gelungenen Übersetzungsvorschlägen auf, zudem halten sich die Überschneidungen in überschaubaren Grenzen. Rainer G. Schmidts Ausgabe füllt also mehr als nur die sprichwörtliche Lücke, sie schüttet ein wahres Füllhorn interessanter, bisher unübersetzter Gedichte aus und öffnet somit — und nicht zuletzt durch die Anmerkungen und das kenntnisreiche Nachwort — weitere Zugänge in das Werk von Wallace Stevens. Für jeden Liebhaber amerikanischer Dichtung dürfte der Band deshalb auf lange Sicht unverzichtbar sein.
Wallace Stevens war zeitlebens einem dichterischen Habitus abhold, der bereits damals ein Klischee war, das allzu reale Grundlagen besaß. In einem Brief klagte er: „Es war ein großer Verlust für die Dichtung, als die Leute zu glauben anfingen, daß der berufsmäßige Dichter ein Außenseiter oder Verbannter sei.“ Nein, Wallace Stevens, der bis zum Vizepräsidenten einer Versicherungsgesellschaft aufgestiegen war und sich wenig um die Publikation seiner Lyrik kümmerte, entsprach nicht dem Bild, daß man sich von einem Dichter-Bohemien der Moderne machte. Auch heute noch, in der Retrospektive, ist Stevens ein Autor, dessen Werk aus dem Gros der amerikanischen Dichtung herausfällt, einer Dichtung, die sich großenteils allein dem Deskriptiven, d.h. der Beschreibung sichtbarer Phänomene, zuwendet. Immer wieder veranschaulicht Stevens nämlich einen dichterischen Prozeß, der von der Anschauung zur Idee und Theorie über jene Anschauung und wieder zurück zum Beschriebenen führt, und dabei hat er einige der komplexesten und formvollendetsten Gedichte der amerikanischen Literatur geschaffen.
In dem frühen Band „Harmonium“ finden sich absurd anmutende Szenen wie „Der Doktor aus Genf“ und „Der Kaiser von Eiscreme“ neben vielen Bildern einer an den Imagismus und den Surrealismus gemahnenden Metaphorik: „Seht, schon salben die Krähen auf den langen / Paraden die Statuen mit ihrem Dreck. // Und die Seele, o ihr Ganter, die allein ist, fliegt / Weiter als eure frostigen Wangen, hin zu den Himmeln.“ Oder: „Das Licht gleicht einer Spinne. [...] Es schleicht unter deine Augenlider / Und breitet dort seine Weben aus — “ Doch finden sich bereits auch jene für den späteren Stevens so typischen Gedichte, in denen sich Beobachtung (oder genauer: Beschreibung des Beobachteten) mit Reflektionen vermischen. In dem Bemühen, die Wirklichkeit qua Imagination zu ordnen, setzt der Dichter eine Form, in der nicht dargestellt, sondern über Objekte meditiert wird, die sich im Akt des Sprechens verändern. In der berühmten Sequenz „Dreizehn Anschauungen einer Amsel“ etwa, die auch in dieser Auswahl glücklicherweise berücksichtigt wurde, befindet sich der Blickwinkel nicht nur auf räumliche Art in ständiger Veränderung, um verschiedene Aspekte des Vogels einzufangen, auch die Sprache selbst ist instrumentalisiert zu einem dauernden Ausloten verschiedener Formen der Evokation — eine Sprache, die die Wirklichkeit fragmentiert und dann wieder imaginativ zusammensetzt. Immer wieder begegnet ein solches kaleidoskopisches Dichten bei Stevens, etwa in „Variationen auf einen Sommertag“ oder der äußerst entschlackten „Studie zweier Birnen“.
Das mehrteilige Gedicht „Beschreibung ohne Ort“ exerziert sogar eine Evokation aus dem Nichts mittels der Sprache durch. Ähnlich, in seiner Prägnanz jedoch viel radikaler kommt „Das Gedicht, das den Platz eines Berges einnahm“ daher, hier ist der Aufstieg auf einen Berg zugleich der Weg, den das Gedicht nimmt, anstelle des Aufstiegs, in einer Abstraktion, die charakteristisch für die meisten von Stevens’ Gedichten ist. Paradoxerweise erlangt das Beschriebene, dadurch negiert, daß es als Sprachschöpfung bezeichnet wird, eine viel intensivere Wirkung auf den Leser, so als käme es gleichsam von allem Überflüssigen gereinigt aus dem Geist des Dichters. Die grandiose syntaktische Kette von „Der Mann im Schnee“, über einen mit „Wintersinn“, der, „selbst nichts, nichts sieht, / Was nicht da ist, und das Nichts sieht, das ist“, führt in Perfektion vor, wie aus dem Prozeß des Wahrnehmens sich die Sprachgestalt selbst herausschält. Anders ausgedrückt:
Schau, Realist, der du nicht weißt, was du erwartest.
Das Grün senkt sich auf dich, während du schaust,Senkt sich weiter und schafft und schenkt, sogar eine Sprache.
Stevens hat oft über das Verhältnis der Imagination zur Wirklichkeit meditiert, das sich allerdings im Laufe seines Schaffens mal in die eine, mal in die andere Richtung verschiebt, also genauso nicht von jener Dauer war, wie der in den Gedichten beschworene Perspektivwandel. Unmöglich, mit wenigen und aus dem Kontext gerissenen Zitaten den gesamten Geistesraum des Wallace Stevens zu veranschaulichen, zu abstrakt, zu komplex sind die Zusammenhänge. Müßte man ihn charakterisieren, fiele wohl das formale Element am stärksten ins Auge. Schönheit mag außerhalb sein oder auch nicht, erst im Geist wird sie de facto zur Schönheit. Da kann einer „müde der alten Beschreibungen der Welt“ sein, er beschwört doch das Nicht-Beschreiben, das seinerseits wieder eine Beschreibung der Dinge als Wirkung auf den Geist ist:
Es war die Bedeutung der Bäume draußen,
Die Frische der Eichenblätter, nicht einmal,
Daß sie Eichenblätter waren, sondern wie sie aussahen.
Es war etwas, das wirklicher war, er selbst
In der Mitte von Wirklichkeit und sie sehend.
Banales und Beiläufiges kann zum Ausgangspunkt einer universellen Betrachtung sowohl im sinnlichen wie im philosophischen Sinn werden. Es wird umgeprägt: „Ein neuer Text der Welt“. Dabei gehen Benennung, Anspielung, Sentenz, lyrische Metapher eine unnachahmliche Einheit ein („Möglich ist, daß Scheinen — Sein ist, // Wie die Sonne etwas Scheinendes ist und zugleich ist“) — das Harmonium der Sprache ertönt, die Imagination stiftet Ordnung in der chaotisch erscheinenden Wirklichkeit. In den Fünfziger Jahren hinterfragt Stevens dann jedoch zunehmend die spezifische Kraft der Imagination, der Wirklichkeit eine Bedeutung zu verleihen. Selbst wenn Stevens, unter veränderlichem Blickwinkel, die Möglichkeiten der Sprache auslotet, sie verselbständigt sich nie, macht sich nie unabhängig von der Wirklichkeit, als einzige Wirklichkeit, sondern verweist immer auf ein Außerhalb der Sprache, dem es mittels Sprache einen Ort zu bestimmen gilt, durch „Gesegnete Ordnungswut“.
Wirklichkeit ist der Anfang, nicht das Ende,
Nacktes Alpha, nicht das Hierophanten-Omega,
Von dichter Investur, mit leuchtenden Vasallen.
Indem Rainer G. Schmidts sehr überzeugende Auswahl sich auf zumeist bisher unübersetzte Gedichte konzentriert, gelingt es ihr, den amerikanischen Dichter auf ganz neue Weise zu präsentieren und seinem Werk unbekannte Aspekte zu entlocken. Es tritt uns hier, nicht zuletzt dank der unverkrampften Übersetzung, ein in seiner Nüchternheit schon wieder überaus reizvoller Dichter entgegen, der mit subtilem Humor und scharfem Urteil für sich einnimmt. Wer bislang glaubte, Wallace Stevens sei ein wenig trocken oder steif, wird nun leidenschaftlich eines Besseren belehrt! „Dieses sich endlos entwickelnde Gedicht / Zeigt die Theorie von Dichtung / Wie auch das Leben von Dichtung.“
Fixpoetry 2014
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Kommentare
Wallace Stevens
Stimmt alles, was Jürgen Brôcan da über Wallace Stevens und seine neuen Übersetzungen ins Deutsche schreibt. Vielleicht hätte er aber noch einen kleinen Hinweis auf YouTube geben können, wo man auch die Stimme von Stevens hören kann. "The emperor of ice-cream" gelesen vom Autor ist einfach umwerfend. Ich gestehe, Wallace Stevens erst spät für mich entdeckt zu haben. Seine Lesung dieses Gedichts hat zu dieser zunehmenden Begeisterung nicht unwesentlich beigetragen. Stevens, the emperor of american poetry.
Carl Wilhelm Macke
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