Großvater seufzt
Mit Als die Karpfen fliegen lernten. China am Beispiel meiner Familie legt Xifan Yang sehr selbstbewusst einen Roman vor, dem man in nichts ansieht, dass es sich dabei um ein Romandebut handelt.
Es geht um China. Das alleine wäre schon eine schier nicht zu bewältigende Herausforderung für einen Roman. Aber Xifan Yang macht keinen Schnappschuss des Chinas einer einzelnen Figur innerhalb eines bestimmten Zeitabschnittes an einem Ort, sondern sie zeichnet in ihrem Roman nicht mehr oder weniger nach, als das China dreier Generationen, das China einer Großfamilie, ihrer Großfamilie – vielfältig, facettenreich und im ständigen Wandel begriffen. China in einem Roman einfangen zu wollen, ist an sich eine Unmöglichkeit und doch gelingt es Xifan Yang irgendwie und auch noch mit sehr viel Leichtigkeit und Humor.
Xifan Yang gelingt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit und eine Annäherung an China: ernsthaft, jedoch nicht immer ganz ernst, also nicht ohne gelegentliches Schmunzeln, verschmitztes Lächeln oder Augenzwinkern. Das macht schon die Coverabbildung deutlich, auf der Xifan Yang mit ihrem Großvater zu sehen ist: er steht, ernst, mit dicker Brille und hinter dem Rücken verschränkten Armen, während seine Enkelin neben ihm auf einer Absperrung sitzt, um nicht gar so viel größer zu sein als er, und eine große Traube bunter Jahrmarkt-Luftballons in der Hand hält. Unwillkürlich sucht man sofort einen Karpfen zwischen den seltsam anmutenden Teddybären oder fliegenden Einhörnern zu entdecken. Aber ob sich tatsächlich ein fliegender Luftballonkarpfen darunter befindet, bleibt ungewiss. Die obersten Luftballons werden vom Fotoausschnitt abgeschnitten, wodurch der Eindruck einer großen Offenheit nach oben hin verstärkt wird. Das Foto wirkt, als würde Xifan Yang schon im nächsten Augenblick ihre linke Hand öffnen und die Luftballontraube los- und aufsteigen lassen.
Großartig schon der erste Satz im Prolog, mit dem scheinbar der ganze nachfolgende Roman sogleich relativiert wird, noch bevor er richtig angefangen hat: eigentlich sei es nämlich der Roman, den ihr Großvater schreiben hätte wollen, wenn er nicht anderweitig beschäftigt gewesen wäre:
Wenn es nach meinem Großvater gegangen wäre, hätte er dieses Buch geschrieben, nicht ich. […] Um es selbst zu schreiben, hatte er aber doch keine Zeit. Zu sehr war er damit beschäftigt, seine Gesangskarriere voranzutreiben.
Aber so kann man das natürlich nicht stehen lassen. Denn Xifan Yang schreibt nicht einfach den Roman, für den ihr Großvater keine Zeit hatte – sie schreibt ihren eigenen Roman, den niemand anderer als sie so schreiben hätte können.
Wie schon der erste Satz im Prolog, beginnt auch der eigentliche Roman mit der Figur des Großvaters. Er wird eingeführt, nicht indem sein Aussehen oder seine Macken beschrieben werden, sondern indem sein Name erklärt und übersetzt wird:
Mein Großvater heißt Peng Fangcong. Peng ist der Familienname, wie das Schussgeräusch. Fast alle Bewohner unseres südchinesischen Heimatdorfs tragen ihn. Das Zeichen für fang bedeutet „wohlriechend“ und cong so viel wie „hellhörig“ oder „gescheit“. Ich bin mir nicht sicher, was meine Urgroßeltern sich 1934 bei der Geburt ihres zweitältesten Sohnes dachten, aber der Name passt, finde ich, ganz gut: Auf sein Äußeres achtet mein Großvater von jeher. Und dass er überdurchschnittlich klug und begabt ist, kann man ihm nie oft genug sagen.
Ist schon der Geburtsname des Großvaters besonders, so ist sein Künstlername noch ungewöhnlicher: Herr Xia, Herr Sommerbambus, dazu aber später mehr.
Der Titel, Als die Karpfen Fliegen lernten, ist sehr treffend gewählt, sodass es kaum Erläuterungen bedarf, für wen oder was die fliegenden Karpfen stehen. Ein Mao-Lied, welches am Ende des Romans anzitiert wird, beginnt mit den Worten: „Fische können das Wasser nicht verlassen, Melonen nicht den Acker.“ Dabei gibt es in China eine alte Legende zu fliegenden Karpfen:
Die Uniaufnahmeprüfungen zu bestehen sei so schwer, wie für einen Karpfen über ein Drachentor zu springen, sagte der Volksmund. Das Sprichwort stammt aus der Region am Gelben Fluss. Jeden dritten Frühlingsmonat schwimmen die Fische dort flussaufwärts, bis sie den Fuß eines Wasserfalls erreichen – das „Drachentor“. Die wenigen Fische, die es schaffen, diese Hürde zu überspringen, verwandeln sich der Legende nach in Drachen. Das Überspringen des Drachentors steht in China seit Jahrhunderten als Symbol für einen plötzlichen sozialen Aufstieg: früher durch das erfolgreiche Absolvieren der berüchtigten Beamtenprüfung am kaiserlichen Hof, heute durch Bestehen der Uniaufnahmetests.
Die Legende der fliegenden Karpfen wird noch einmal im Roman angesprochen und diesmal auf die Elterngeneration angewandt, welche China unter großen Entbehrungen verlassen hat, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen:
Auch meine Eltern haben ihr Zuhause mit nichts als einem Koffer und einem vagen Traum verlassen. [...] Unsere Eltern waren wie die springenden Karpfen am Fuß des Wasserfalls: Sie gaben alles, um übers Drachentor zu fliegen – damit wir heute noch weiter fliegen können als sie.
Als die Karpfen fliegen lernten ist ein Buch, geschrieben für den Westen. Man merkt, dass Xifan Yang sehr darum bemüht ist, besseres Verständnis von China, dem Land, in dem sie inzwischen (wieder) lebt und doch immer eine Fremde bleiben wird, zu vermitteln. Xifan Yang ist in China geboren, aber in Freiburg aufgewachsen. Damit ist sie eine Fremde in China, eine „Banane“, wie es heißt – außen gelb und innen weiß. Auch wenn sie jetzt in Shanghai lebt, wird sie doch immer eine Auslandschinesin bleiben, wodurch sie etwas privilegiert sei, wie sie in einem Interview meint, weil sie sich dadurch nicht ins System einordnen müsse:
„Ich lebe aber auch in einer unglaublich privilegierten Situation. Weil ich den deutschen Pass habe, werde ich nicht mit denselben Maßstäben wie andere Chinesen gemessen. Ich muss mich den Konventionen nicht anpassen und kann immer sagen: Ich bin in Deutschland aufgewachsen, ich mache das anders. Für meine Mutter wäre es eine ganz andere Situation gewesen. Wenn sie zurückgegangen wäre, hätte sie sich wieder in das System einfügen müssen. Das muss ich nicht.“ (Interview in der Badischen Zeitung, Mi, 15. April 2015)
Xifan Yang steht damit als Autorin zwischen zwei Kulturen, die sie beide sehr gut kennt, und nutzt diese Position, um zu vermitteln und zu erklären. Bereits der zweite Satz des Romans „Peng ist der Familienname, wie das Schussgeräusch“, die Klarstellung, dass bei Chinesischen Namen zuerst der Familienname kommt, verrät eines: der Roman richtet sich ganz eindeutig und von Vorne herein an ein westliches Publikum, versucht China verständlicher zu machen und zu erklären. Dass Peng der Familienname ist, ist eine Erklärung, die zeigt, dass Xifan Yang alle mitnehmen möchte und gerade auch Menschen, die sich mit China bisher überhaupt nicht auseinandergesetzt haben. Auch der Vergleich mit dem Schussgeräusch lässt sofort an westliche Comics denken.
Sehr häufig werden Vergleiche gezogen, die gerade für ein westliches Publikum leicht verständlich sind, beispielsweise wenn traditionelle Chinesische Musikinstrumente vorkommen und mit einem Banjo oder einer Zither verglichen werden:
[…] Instrumente wie die erhu, die zweisaitige Fiedel, die er selbst so gern spielte, die auch „Mondgitarre“ genannte ruan, eine Art viersaitiges Banjo, die banhu, ein Streichinstrument mit einem Klangkörper aus Kokosnuss, und die guzheng, eine traditionelle Zither.
Es ist ein Roman über China, aber nicht für China geschrieben. In einem Interview erklärt Xifan Yang, dass der Roman in China nicht veröffentlicht werden könne:
„Es ginge nur unter ganz großen Kompromissen, die ich nicht eingehen möchte. Man müsste das ganze Tiananmen-Kapitel streichen und im letzten Drittel vieles, was ich über meine Arbeit dort geschrieben habe. Dann hätte das Buch aber keinen Sinn mehr für mich.“ (Interview in der Badischen Zeitung, Mi, 15. April 2015)
Der Held des Romans ist der Großvater, Peng Fangcong, mit seinem kreativen Zweitcharakter Herr Xia, Herr Sommerbambus:
Dass Großvaters Zweitcharakter zugange ist, weiß man in der Regel, wenn ein leises Summen aus seinem Schlafzimmer dringt. Dort findet man ihn dann hinter geschlossener Tür am runden Schreibtisch, wo er über einem Stapel zerfledderter Notenhefte brütet. Jeden Zentimeter dieser Hefte füllt er mit mikroskopisch kleinen Liedzeilen. In diversen Farben und unterschiedlichem Verschnörkelungsgrad wandern die Schriftzeichen vom linken Blattrand an den rechten, sie mäandern von oben nach unten, tanzen quer über ganze Doppelseiten und enden abrupt im Nichts.
Er ist ein unglaublich liebenswürdiger Träumer, den man sofort ins Herz schließen muss, noch lange, bevor man auch nur erahnt, was er alles durchleiden hat müssen. Nachts holt ihn die Vergangenheit in seinen Albträumen ein:
Seit mehr als vierzig Jahren jagen ihn dieselben Albträume aus dem Schlaf: eine Bühne, davor eine wütende, johlende Menge. Großvater kniet auf Glasscherben, auf dem Kopf trägt er einen spitzen Papierhut mit der Aufschrift „Nieder mit dem Konterrevolutionär Peng Fangcong!“. Vor ihm brüllen Männer mit Schlagstöcken: „Gestehe! Gestehe!“
Als Großmutter noch lebte, musste sie ihn im Bett festhalten, damit er nachts nicht um sich schlug. Aus Angst, sie versehentlich zu verletzen, schlief er mehrere Jahre auf dem Boden neben dem Ehebett. Auch heute noch schlafwandelt er regelmäßig; jede zweite Nacht hört meine Tante wilde Schreie und Gemurmel aus seinem Zimmer.
Doch untertags träumt er von seiner Karriere als Komponist und Sänger, lässt sich von der Vergangenheit nicht unterkriegen und beginnt den Tag mit einem Lächeln:
Trotz der Albträume zündet Großvater sich jeden Morgen mit einem Lächeln seine erste Zigarette an. Denn tagsüber verfolgt er einen anderen Traum: Herrn Xia stehe der große Durchbruch als Musiker bevor, erzählt er mir seit Jahren.
Der Großvater ist eine unglaublich lebensfrohe Persönlichkeit. Auch wenn es ihm nicht möglich war, ein Leben als Künstler führen zu können, so ist und war er in seinem Innersten doch immer Künstler und Lebenskünstler und lebt seine Musik:
Wenn Großvater singt, gleicht es einem Naturereignis. In den vergangenen Jahren habe ich des Öfteren erlebt, wie es ihn manchmal wie aus dem Nichts überkommt. […] Beim Singen setzt Großvater seinen ganzen Körper ein: Seine Stimme bebt in einem leichten Vibrato, er mäandert zwischen Hoch und Tief, dehnt, beschleunigt, fällt in ein Stakkato, bremst und horcht den Tönen, die seine Kehle verlassen, nach, als würde er sie noch ein Stück hinausbegleiten wollen. Arme und Beine tanzen mit, als würde er Schatten boxen, er steigert sich hinein in einen Rausch, der ihn manchmal so selbstvergessen macht, dass er mitten in einer Strophe abrupt abbricht, weil er vergessen hat, wie es weitergeht. In solchen Momenten lacht er über sich und das Leben, wie er es sonst nie tut: heiter, gelöst, befreit.
Die beiden Kernfiguren, Dreh- und Angelpunkte des Romans sind der Großvater und die ich-Erzählerin, seine in Deutschland aufgewachsene Enkelin. Xifan Yang erzählt in einem Interview, dass sie sich die Geschichte ihrer Familie, die sie im Roman erzählt, erst erarbeiten hatte müssen und dass es auch immer wieder ein Kampf mit ihrem Großvater gewesen sei:
„Ich wusste ganz wenig über seine Vergangenheit, nur dass er mal zwanzig Jahre unter schwierigen Umständen gelebt hat, auf dem Land. Aber warum, das wusste ich nicht. Diese Jahre waren wie ein dunkles Loch, über das er nicht gesprochen hat, das aber viel mit ihm gemacht hat.
[...] Etwas Konkretes über seine Geschichte habe ich eher über meine anderen Verwandten erfahren. Und aus seinen Parteiakten, die ich aufgespürt habe. Ohne sie hätte ich viele Details nicht rekonstruieren können, an die mein Großvater sich nicht erinnern kann – oder nicht will. Es war immer wieder ein Kampf mit ihm, über diese Zeit zu sprechen.“ (Interview in der Badischen Zeitung, Mi, 15. April 2015)
Großvater und Enkelin sind die beiden zentralen Figuren, aber sie sind bei weitem nicht die einzigen Figuren des Romans, denn es wird die Geschichte einer chinesischen Großfamilie erzählt. Zusätzlich aufgelockert wird der Roman mit vielen Fotos aus dem Familienalbum, oder Fotos von Dokumenten. Und vielleicht sind es auch die Fotos, die helfen, sich sofort und ohne Schwierigkeiten in der Großfamilie zurecht zu finden und Onkel Songhe nicht versehentlich mit Onkel Xungui zu verwechseln.
Mit drei Generationen wird ein sehr großer Zeitraum umspannt, wobei auch noch die Urgroßelterngeneration leicht gestreift wird:
Als eine der letzten Frauen ihrer Generation hatte Urgroßmutter gebundene Füße. Als sie vier war, wickelte ihre Mutter ein langes Tuch um ihre Zehen und zerschmetterte mit einem Steinbrocken den Fußrücken. […] Urgroßmutter hatte vergleichsweise Glück. Just im selben Jahr, als man ihr die Fußrücken brach, wurde das Füßebinden landesweit verboten. Dort, wo man es trotzdem weiter praktizierte, auch in Lashi, galt es zunehmend als unmenschlich. Als Urgroßmutter zehn wurde, ließ ihre Mutter das Bandagieren irgendwann einfach bleiben.
Da Xifan Yang von einer Großfamilie in drei Generationen ausgeht, die zunehmend über China und die Welt verstreut lebt, hat sie viele Blickwinkel zur Verfügung. Historische Ereignisse werden nie für sich alleine stehend, sondern immer in Zusammenhang mit den Erlebnissen eines Verwandten erzählt. So erlebte der Onkel Songhe die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens mit und kann daher kaum darüber sprechen:
Im Frühjahr 1989 war Onkel Songhe einer der Hunderttausenden Studenten, die in Peking den Platz des Himmlischen Friedens besetzten. Von den Protesten spricht er mit regloser Stimme. Er redet diffus von „dieser Sache“, als ginge es um etwas, das er mal flüchtig im Fernsehen gesehen hat. Seit 25 Jahren tut die Regierung alles, um sämtliche Erinnerungen an den 4.Juni aus dem Gedächtnis der Menschen zu löschen. Dieses Jahr, kurz vor dem 25. Jahrestag, zeigte sie besonders großen Einsatz: im Onlinelexikon Baidu Baike kann man nicht einmal den Eintrag für das Jahr 1989 aufrufen. Ein ganzes Jahr aus der Geschichte getilgt, einfach so. Wer nicht vergessen will, bleibt mit seinen Erinnerungen alleine.
Die Geschichte Chinas wird anhand individueller Schicksale erzählt, was das Erzählte berührender macht. Gerade die Großeltern haben viel durchlitten, Zwangsarbeit, Hunger, öffentliche Zurschaustellung und Folter in der Zeit unter Mao und des Großen Sprungs:
Überall zwangen lokale Parteikader die Menschen zur Arbeit – auch die Studenten an Großmutters Universität. […] Trotz Babybauch verlangte man von ihr, zehn Stunden am Tag in der Nähe der brütend heißen Öfen zu stehen. An anderen Tagen musste sie bis zu 15 Kilo schwere Bottiche mit Kohle oder Metall von A nach B schleppen, manchmal 10 Kilometer weit. Nach drei Monaten Schufterei erlitt sie eine Fehlgeburt. Zehn Tage später kehrte sie zurück an den Hochofen.
Es werden viele historische Fakten mitgeliefert, aber wie nebenbei, um die persönlichen Einzelschicksale in einen größeren Kontext zu setzen.
Großmutter kam, als an vielen Bewohnern bereits eine schleichende Wandlung des Körpers zu beobachten war: Erst magerten Arme und Beine zu Stecken ab, dann schwollen sie mit Wasser an. Den Hungrigsten wuchs ein melonenförmiger Kugelbauch. Ärzten verbot Mao, die Krankheit beim Namen zu nennen: Die Bezeichnung für Hungerödeme lautete schlicht „Krankheit Nr.2“
Obwohl sehr Tragisches erzählt wird, ist Als die Karpfen fliegen lernten als Ganzes doch ein unglaublich positiver Roman. Der Blick von Xifan Yang auf China ist sehr liebevoll, doch nicht verklärt, sondern kritisch und differenziert. Missstände, Probleme und verdrängte Geschichte werden angesprochen, im Gesamten ist der Roman jedoch von lebensbejahender Zuversicht geprägt, besonders eindrücklich in der Figur des Großvaters:
Tagsüber spielte Großvater erhu und widmete seine Zeit dem Tai-Chi und der Kalligraphie. Für Letzteres hatte er eine neue Technik entwickelt, „patentreif“, wie er prahlte. Bei seiner Erfindung handelte es sich um einen Pinselhalter aus einem auseinandergesägten Besenstiel, an dem er einen gewöhnlichen Bambuspinsel mit Rosshaar befestigte. So war es ihm möglich, im Stehen zu schreiben. [...] Derart ausgestattet, verließ er jeden Morgen um sieben mit einem Eimer Wasser in der Hand das Haus und spazierte Richtung Flusspromenade. Dort begann er, mit tanzartigen Schritten Gedichte auf den gekachelten Steinboden zu pinseln. Ein Schauspiel von flüchtiger Schönheit: Wenige Momente später hatte die aufsteigende Sonne die Wasserzeichen in Luft aufgelöst.
Im letzten Teil des Romans geht es zunehmend darum, wie die in Deutschland aufgewachsene ich-Erzählerin immer wieder nach China zurückkehrt und ihre anfängliche Euphorie und Faszination allmählich aufmerksamer und differenzierter Kritik weicht. China wird in seiner faszinierenden Vielfältigkeit gezeigt, aber keineswegs unhinterfragt verklärt. Besonders gelungen arbeitet Xifan Yang den Wandel der Einstellungen und Ansichten der einzelnen Figuren über die Zeit hinweg heraus. Denn nicht nur ihr Blick auf China als zurückgekehrte Auslandschinesin verändert sich, auch die Ansichten und Werte der in China gebliebenen Verwandten.
Es geht um China, nicht mehr und nicht weniger, der Untertitel: „China am Beispiel meiner Familie“ verrät es schon. Damit hat Xifan Yang sich eine Herkules-Aufgabe gesucht, der sie sich aber durchaus gewachsen zeigt. Erstaunlich und erfreulich ist, wie es Xifan Yang gelingt, auf 333 Seiten durchgängig eine große Leichtigkeit zu bewahren: trotz des riesigen historischen Bogens, den sie über drei Generationen aufspannt und durchhält, trotz der mitunter schweren Thematik und trotz der vielen Figuren, denen wir im Laufe des Romans begegnen. Sehr informativ, aber nicht belehrend, ernsthaft und doch unterhaltsam, kritisch und doch liebevoll, so lässt sich der Roman und der darin vermittelte Blick Xifan Yangs auf China beschreiben. Und allein schon um der Figur des Großvaters wegen lohnt es sich, diesen Roman zu lesen. Am liebsten würde man gleich ins Flugzeug steigen und den Großvater, Herrn Sommerbambus, in eine Karaokebar einladen. Um so einmal selbst dem Naturereignis beiwohnen zu können, ihn singen zu hören und um in sein herzliches Lachen einstimmen zu können:
Disco-Licht geht an, eine Melodie ertönt. Großvater lehnt sich vor zum Mikrofon und schmettert aus voller Kehle: „Fische können das Wasser nicht verlassen, Melonen nicht den Acker. Mao ist unser großer Steuermann ...“ Seine Stimme überschlägt sich. Er stockt. Räuspert sich. Blinzelt. Er hat offensichtlich den Text vergessen. Die Melodie läuft weiter, ohne ihn. Großvater steht da und lacht. Und lacht. Und lacht.
Fixpoetry 2015
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben