Literarische Selbstgespräche

Von und mit Barbara Zeizinger

...die Tage hängen voller erster Sätze.

Barbara Zeizinger

 

Ich spreche zu Beginn über meine Gedichte, übers Gedichteschreiben. Für mich sind die ersten Sätze besonders wichtig. An manchen Tagen fallen mir ganz viele erste Sätze ein, die Tage hängen voller erster Sätze. Nach und nach füllen die sich dann – vielleicht am selben Tag oder danach – mit anderen Sätzen, bis die Zeilen insgesamt rund werden. Ich achte auch bei Gedichten anderer Autoren und ebenso bei Romanen und Erzählungen gern auf erste Sätze. Theodor Fontane hat einmal gesagt, im ersten Satz müsste schon das Wesentliche des ganzen Romans stehen. Daher lese ich immer aufmerksam, was im ersten Satz und auf der ersten Seite steht.

Meine ersten Sätze fallen oft aus dem Alltag heraus. Beispielsweise, eines meiner Gedichte fängt an:

Es sind immer zwei Träume in einem

Ich weiß bis heute nicht, wie mir plötzlich, urplötzlich, dieser Satz in den Sinn gekommen ist. Aber er hat sich dann mit Erlebnissen und Begegnungen aus dem Alltag gemischt und plötzlich fügt sich eins zum anderen zusammen.

Ich denke, es ist die Musikalität der ersten Sätze, die insgesamt die Gedichte bestimmen. Es ist immer ein musikalischer, rhythmischer, Satz, der mir als erstes einfällt. Und daraus ergibt sich dann oft der Rhythmus des ganzen Gedichtes, obwohl ich meine Gedichte eher als prosaisch einschätzen würde. Aber dennoch ist dieser erste Satz wichtig für den Ablauf, die Form, des ganzen Gedichtes. Schwieriger wird es natürlich, wenn ich Gedichte zu einem bestimmten Thema schreibe. Ich bin in Darmstadt sehr vernetzt mit anderen Literaturgruppen und zusammen veranstalten wir manchmal themenbezogene Lesungen. Da warte ich oft vergeblich auf den ersten Satz und es dauert länger, bis mir etwas einfällt, weil ich eher den Inhalt im Kopf habe, als die Sprache. Aber irgendwann klappt es meistens trotzdem. Und wenn es nicht klappt, dann schreibe ich die Gedanken in Prosa auf, bis sich die Sätze nach und nach zu einem Gedicht formen.

Auch bei einem Roman ist das Wesentliche für mich der Anfang. Die ganze Geschichte des Romans trage ich wochenlang, monatelang wäre jetzt übertrieben, aber wochenlang mit mir im Kopf herum, sehe die Handlung und seltsamerweise auch den Schluss vor mir.

Und es fällt mir ziemlich leicht, das erste Kapitel zu schreiben, die ersten sechs, sieben, acht, neun Seiten, die funktionieren ähnlich wie bei den Gedichten. Dann wird es schwieriger. Den Inhalt zwischen dem Anfang und dem Schluss zu füllen, das ist schon nicht mehr ganz so einfach. Und irgendwann fängt natürlich die Arbeit an, gerade beim Roman, dass man sich Stück für Stück durcharbeitet. Manche Kapitel, manche Szenen, die entstehen wie bei der Lyrik urplötzlich im Supermarkt an der Kasse, und andere, über die ich zuhause am Schreibtisch grüble, mit denen tue ich mir schwer.

Noch einmal zu meinem Roman. Ich verbinde gern Fiktion und Wirklichkeit. Ein Erzählstrang in Am weißen Kanal spielt in Italien im zweiten Weltkrieg. Da gibt es eine Szene an der Front, in der eine amerikanische Einheit aufgerieben wird. Richtig aufgerieben, es ist historisch verbürgt, dass nur ganz wenige Soldaten überlebt haben. Darüber habe ich viele Sachbücher gelesen, in denen dieser Untergang in historischer Diktion, mit Details über Ziele, Ausrüstung, Brückenköpfe usw. beschrieben wird. Aber als Autorin muss ich dann natürlich schauen, was bedeutet der Satz: „Die Einheit wurde aufgerieben“ ganz konkret? Was bedeutet das für die Menschen? Was denken und fühlen sie? Was denken und fühlen diejenigen, die dazu beigetragen haben, dass die Einheit aufgerieben wurde? Und als Autorin habe ich die Aufgabe, das literarisch umzusetzen. Ich nenne speziell diese Szene, weil ich in diesen Ort gefahren bin – er liegt in Süditalien, am Kloster Monte Cassino. Dort bin ich also hingefahren, genau an die Stelle, an der diese Schlacht laut historischem Sachbuch stattgefunden hat. Dort habe ich tatsächlich ein Denkmal für diese amerikanische Einheit gefunden und als ich davor stand, haben sich für mich Fiktion und Realität verbunden. In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, ein Stück weit zur literarischen Wahrheit beigetragen zu haben.

Indem ich etwas, das wirklich geschehen ist, in eine Szene umsetze und den Protagonisten bestimmte Sätze in den Mund lege, erfahre ich auch viel über mich selbst. Denn ich bin ja diejenige, die die literarischen Personen so und so und nicht anders sprechen, denken, fühlen und handeln lässt. Ähnlich ist das bei Gedichten. Ich kann durch Sprache unterschiedliche Möglichkeiten der Wirklichkeit erfassen und meinen Standpunkt in der Wirklichkeit hinterfragen.

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