Notiz

#neverforget 09. November 1938 Reichspogromnacht

53 in Bibliotheken der Welt aufgefundene Titel der Verlagsbuchhandlung Sänger & Friedberg von 1907 bis 1929 als Symbol des untergegangenen Hauses an der Allerheiligenstraße 81 zu Frankfurt am Main. (Zum Vergrößern, klicken Sie bitte hier Hausbibliothek öffnen)

 

Sänger & Friedberg

Allerheiligenstraße 81, Frankfurt am Main

Höre ich eine Buchhandlung rühmen / –wie selten ein solch herzliches Wort! / – trägt mich die Nachricht unwiderstehlich / hin zu ihr wie den Samen Wind. / So schrieb Elke Erb 1994 in dem Gedicht Bücher kaufen.

An der Wittelsbacherallee in Frankfurt, Main, befand sich nicht weit vom Zoo in einer großen Halle der aufgegebenen Schleifmittelfabrik Naxos-Union der Trödlermarkt Leipold, der aus einem Weltkriegsbunker in Sachsenhausen, dem Schifferbunker, dorthin verzogen war. In einem meist verschlossenen Regal unweit der Kasse standen die besseren, das bedeutet vergleichsweise höherpreisigen Bücher. Ich schaute mir einmal wie gewohnt die Reihen hinter Glas an, und entdeckte >Dr. H. Graetz (Professor an der Universität Breslau): Volkstümliche Geschichte der Juden<, in zwei Bänden mit einem Stahlstich des eindrucksvollen Herrn Professors mit einer Feder in der rechten Hand und dem linken auf einem Tisch aufgestützten Arm, dessen Hand an dem vorspringenden Kinn des Professors ruht.

Irgendwann fiel mir auf der mit moosgrünem Papier bezogenen Innenseite des Buchdeckels eines jener Schildchen ins Auge, die Buchhandlungen früher in ihre Ware zu kleben pflegten. In weißer aus dunklem Blau ausgesparter Schrift lese ich:

 

 

Ich möchte etwas über diese Buchhandlung herausfinden, ich möchte wissen, wo man in Frankfurt vor dem Holocaust „jüdische Literatur“ kaufen konnte. Ich möchte wissen, wer Sänger & Friedberg waren. Meine Suche führt zu einem anscheinend nicht mehr ganz entwirrbaren Familiengeflecht und zu der Gewissheit, dass die Buchhandlung die längste Zeit über am Rande des Ostends in der Nähe zweier 1938 niedergebrannter Synagogen an der Allerheiligenstraße Nr. 81 bestand, insgesamt dreißig Jahre lang. Die wenigen Informationen sind zunächst verwirrend, ich erfahre nur äußere, dürre Fakten, und dass Rebekka Sänger, die Witwe Herrn Joseph Sängers in Theresienstadt ermordet wurde. Das Haus ist im Krieg zerstört worden. Es gelang mir bis heute nicht, ein Foto der Buchhandlung aufzufinden. Ich frage in dem amtlichen Gedächtnis der Stadt, im Frankfurter Stadtarchiv, nach und erhalte folgende Antwort:1

 

Ihre Mail vom 29.04.2019 wurde mir zur Beantwortung zugewiesen.
Weder zu Joseph Sänger noch Bernhard Friedberg haben wir Hinweise in unseren Datenbanken finden können. Ebenso wenig haben wir schriftliche oder gedruckte Unterlagen zu der von beiden Personen geführten Buchhandlung.
In einer Veröffentlichung von Paul Arnsberg (Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution. Bd. II. 1983, S. 19) findet sich der Hinweis auf die Zugehörigkeit von Joseph Sänger zur Beerdigungsbruderschaft Chewra Kadisch d’Gomlei Chassodim.
Joseph Sänger (* 12.06.1877 Butterwiesen/Bezirksamt Wertingen/Regierungsbezirk Schwaben in Bayern + 07.12.1930 Frankfurt am Main) starb laut den Angaben im Sterbeeintrag im Georgine Sarah von Rothschild’schen Hospital. Sein letzter Wohnsitz in Frankfurt war der Röderbergweg 97. Der Geburtsort findet sich ohne Geburtsdatum im Sterbeeintrag.
Zu Bernhard Friedberg war überhaupt nichts zu finden. Hinweise auf einen Sterbeeintrag haben wir nicht.
Zu keiner der beiden Personen sind Fotos vorhanden. Zu den von Ihnen genannten Adressen Allerheiligenstraße 81 und Hanauer Landstraße 29 gibt es keine Aufnahmen im Bestand der topographisch geordneten Fotos der Vorkriegszeit. Eine Aufnahme der Buchhandlung ist leider auch nicht vorhanden.
Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
Volker Harms-Ziegler

Das verbrecherische Vorhaben der Nazis eines cultural genocide, die Identität der deutsch-jüdischen Menschen auszulöschen, indem man alle kulturellen Institutionen, die Synagogen, die Buchhandlungen und die Schulen zu beseitigen versuchte, scheint leider zu einem Teil die beabsichtigte Wirkung erzielt zu haben. Aber kann denn eine Buchhandlung, die dreißig Jahre bestand, ohne Spuren zu hinterlassen, ausgelöscht werden? In den von ihr herausgegebenen und erhaltenen Büchern existiert sie weiter.

So bilden oben vor dieser Auflistung der dürren, äußeren Ergebnisse der Recherche 53 in Bibliotheken der Welt aufgefundene Titel der Verlagsbuchhandlung Sänger & Friedberg von 1907 bis 1929 ein Symbol des untergegangenen Hauses an der Allerheiligenstraße 81 zu Frankfurt am Main.

In der Exilzeitung >Pariser Tagblatt< 3. Jahrgang, Nr. 719 aus dem Jahr 1935 war zu lesen:

Jüdische Buchhandlungen müssen verschwinden
Berlin, 30. November
Die jüdischen und halbjüdischen Buchhändler in Deutschland haben die Aufforderung erhalten, ihre Geschäfte bis spätestens zum 15. März 1936 zu verkaufen. Die Gegenvorstellungen einiger Halbjuden, die sich auf die Ausführungsbestimmungen zu den Nürnberger Gesetzen beriefen, wonach die „Mischlinge“ das Reichsbürgerrecht erhalten, wurden zurückgewiesen und zwar mit der Begründung, dass auf kulturellem Gebiet ein strenger Maßstab anzulegen sei.

Die Buchhandlung Sänger & Friedberg wurde am 13. August 1906 von Joseph Sänger, 1877-1930, und Bernhard Friedberg, 1876-1961, in der Allerheiligenstraße 81 gegründet. Herr Sänger war 1922 Mitglied des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, die Buchhandlung zog 1929 in die Hanauer Landstraße 17 um. 1930 verstarb Herr Sänger und seine Witwe Rebekka führte das Geschäft weiter, dessen Spezialität hebräische Literatur war. 1934 verlegte Frau Sänger den Betrieb in den Röderbergweg 41, bevor er am 31. 03. 1936 gezwungenermaßen eingestellt oder „gestrichen“ wurde, wie es in den Annalen des Börsenvereins heißt.

Joseph Sänger wohnte mit seiner zweiten Frau Gella Rebekka in der Hölderlinstraße 12, vorher in der Theobald Christ-Straße 4. Herr Sänger war am 12.06.1877 geboren, so gründete er mit 29 Jahren seine Buchhandlung, die 30 Jahre lang bestand. Seine Frau Rebekka wurde am 15.12.1871 geboren und starb am 24.11.1943 in Theresienstadt.

Nach dem Tod von Jospeh Sänger 1930 war sie mit Simon Saenger verheiratet, der am 18.September 1938 in Fürth verstarb, wo er ebenfalls eine Spezialbuchhandlung für jüdische Literatur geführt hatte. Das Geschäft musste vermutlich Ende 1938 zwangsweise aufgegeben werden. Die Adressen in Fürth waren Blumenstraße 19, Gabelsbergerstraße 4 und um 1940 Schwabacher Straße 28. Vergeblich betrieb Gella Rebekka Saenger ihre Emigration nach Palästina; am 29. Dezember 1941 erhielt sie die endgültige Mitteilung, dass keine Ausreise mehr möglich sei. Gella Rebekka Saenger wurde am 10. September 1942 im Alter von 70 Jahren von Fürth in das Durchgangs- und Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt, wo sie rund 14 Monate später starb.2

Ich fand kein Lichtbild Herrn Sängers, keines von Rebekka Sänger, keines von Herrn Friedberg. Ihr Menschliches ist nahezu gänzlich ausgelöscht, aber nicht vollständig, denn ihre Bücher sprechen für sie. Die Buchhandlung und ihre Betreiber sind in ihren Büchern gegenwärtig: Sie sollen nicht ganz und gar vergessen sein, in den Depots einiger Bibliotheken vieler Länder leben sie weiter.

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