Kickboxen mit Lu

Roman

Autor:
Roman Marchel
Besprechung:
Ute Eisinger
 

Roman

Kickboxen mit Lu – Roman Marchels Versuchsanordnung zeigt Kämpfe um die Sehnsucht im Leben

Im Romandebüt des 1974 in Graz geborenen Roman Marchel trifft die Gemütslage einer munteren sechzehnjährigen Schülerin auf eine lebenserfahrene und -müde 72-Jährige. Die alkoholkranke Schriftstellerin erhält in ihren letzten Tagen die Bestätigung, dass das Leben sich allein für sein Gelebtwerden und die hinterher erfolgte Auseinandersetzung mit dem Geschehenen gelohnt hat.
Der Beitrag der Jungen, Lu, die am Anfang ihrer Zukunft steht, besteht darin, dass sie für Tulpe Valentin, die Ältere, freimütig und witzig drauflos plaudert. Die Mitschnitte dieser Monologe verwendet die Romanautorin für ihr letztes – wie bei ihrem geliebten Beethoven das neunte Werk.

Wie aus dem nahezu ununterbrochenen Geplapper des Mädchens Lu Literatur wird, dafür setzt der Autor den Leser ein; denn die andere Protagonistin hält sich mit Aussagen über das Leben so zurück wie sich die eine kein Blatt vor den Mund nimmt... Wer nicht zu kombinieren, mitzuspielen und in Symmetrie zu setzen versteht, was er liest, kommt dem philosophischen Gehalt des Romans – über die Sehnsucht im Sinn des Lebens – nicht auf die Spur: So heißt es über die traurige Nebenfigur eines frankophilen Haarschneiders: „Es gehört viel mehr Kraft dazu, dass du ein Friseur bist, der gern in Paris wär, als dass du einfach ein Friseur in Paris bist“ (S.145)
Dies (und anderes) nicht als Botschaft zu lesen, schadet nicht, denn die Betrachtungen der kecken Pubertierenden über das Leben sind klug genug. Auf die Erfahrung der mit dem Leben abschließenden Tulpe niedergeschlagen, verhilft Lus Mut Tulpe zur Lebensbilanz, ihrem Vermächtnis: Was (Lu) als letzter Roman in Aussicht gestellt wird, hält der Autor die ganze Zeit bereit – man muss es nur lesen. Und so wie die Schülerin Lu nicht viel mehr als lächerliche oder tragische Anekdoten aus dem Unterricht zu erzählen hat, ging es auch in Tulpes langem Leben – das ebenfalls mit Pädagogen übervölkert ist – ums Lernen, manchmal erst in Form (zu) späten Erkennens.

Die Autorin mit dem Blumennamen hat sich zum Sterben in dieselbe Pension zurückgezogen, in die auch Lu auf der Suche nach „Auszeit“ geraten ist. Ihren Eltern hat sie erzählt, sie befände sich auf einem Kickboxing-Trainingslager. In Wahrheit gilt es auch in ihrem, nach vorn orientierten Leben, etwas zu verarbeiten.
In den Tagen, die die beiden Frauen in der Pension „Zur schönen Gegenwart“ verbringen, findet, wie den Eltern vorgeschwindelt und im Titel angekündigt, eine Art Kickboxen statt: zwischen Lus freiem Leben am Start, und Tulpes, das zu Ende geht. Tulpe hat sich seit den 1950-erjahren, in deren Provinzmief sie aufwuchs, alle Freiheiten genommen. Lu, zwei Generationen jünger, stehen von Anfang an alle Möglichkeiten frei; dennoch hat sie schon erfahren, dass ihre Ungebundenheit verletzt.
 
Jeden Vormittag sitzen die beiden Frauen auf einer Bank vor dem Pfauengehege des Gartens. Lu erzählt, was ihr durch den Kopf geht, v.a. über Freundinnen, Lehrer und schale Gefühle nach Ausbruchsversuchen. In die Monologe sind – sich in der Frequenz steigernd – Erinnerungen und Beschreibungen aus Vergangenheit und Gegenwart Tulpes, ehemalige Volksschullehrerin – gestreut. Ihre Lebensentscheidungen entrollen sich nur langsam, während das Mädchen vor Mitteilungsdrang nur so sprudelt. Die beängstigenden Dinge kommen bei Lu erst am Schluss heraus.

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