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Roman
Kickboxen mit Lu – Roman Marchels Versuchsanordnung zeigt Kämpfe um die Sehnsucht im Leben
Roman Marchel, dessen Erzählung „Der Roboter und das Mädchen“ 2004 den Siemens-Literaturpreis gewann, verleiht der 16-jährigen Lu eine herzerfrischend authentische Stimme, der gereiften und ruhigeren Tulpe, zweieinhalb Generationen älter, einen ganz anderen Sprachduktus: Ihre Worte sind beinhart vor Lebensdichte. Tulpe gibt nicht viel von sich preis. Während Lu frei von der Leber weg, ausschließlich direkt und immer im grammatischen Präsens plaudert, erfährt man ungleich stockender etwas über Tulpe – indirekt; beispielsweise aus Dokumenten, die man erst im Nachhinein versteht, erschließt sich ihr Scheitern als Lehrerin, aufgrund ihres Lebenswandels.
Marchel befleißigt sich, sobald es um Tulpes Vergangenheit geht, eines völlig anderen, elegischen Tons mit Neigung zum Sentiment. Man nimmt ihn als Tulpes innere Erzählerstimme wahr. Direkt hören wir Tulpe nie, bestenfalls in Rollenspielen mit ihrer Interviewpartnerin. (Aus dem Zusammenhang wird allerdings klar, dass sie Lu eine Menge über sich mitgeteilt haben muss.)
So solide Marchel die Geschichte aufbaut, so mühelos passen sich der Handlung poetische Aufmerksamkeiten ein, etwa die Blondheit von Lus Körperhärchen betreffend, als ihr beim Kopfstand das T-Shirt verrutscht. Es gibt eine Reihe von Wortbildungen, dem Erzähl- und Beschreibungs¬fluss wie nebenher entsprungen. Auch die einzige erotische Szene des Buches ist ganz leichthin gelungen.
Ein Leitmotiv ist Matthias Claudius’ frühromantisches Gedicht „Der Mond ist aufgegangen“. In der versöhnlichen Katharsis des Buches werden die Protagonistinnen gemeinsam eine „Umlegung“ dieses Lieds in die Popmusik singen, Mike Oldfields „Moonlight Shadow“ – für Lu eine traurige Lebenslast; desgleichen bedeutet für Tulpe das Claudius-Gedicht romantische Sehnsucht. Der „kalte Abendhauch“ in der Pension und der „kranke Nachbar“, den Tulpe anfangs zum Ablenken von ihrer eigenen Alkoholsucht erfindet, entstammen dem Gedicht. Es heißt darin, man möge Gott mitten im Leben loben, indem man annimmt, was die Gegenwart bietet – ein Motto, zu dem der Leser kommt, spielt er Marchels Versuchsanordnung in der „Schönen Gegenwart“ durch.
Dass „Moonlight Shadow“ im Gewissen der jungen Protagonistin mit dem mehrfach erwähnten „Erlkönig“ zusammen hängt und der untote „Nosferatu“, nicht von ungefähr immer dann auf der Leinwand läuft, wenn sein Anagramm Arthur in Tulpes Leben tritt, sind Fährten, die Marchel uns legt.
Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass der lang mit Tulpe lebende Oliver im Vornamen auch eine Pflanze, sogar eine genießbare, birgt; so wie Tulpe, Lu und Lukas je zwei Buchstaben gemeinsam haben.
Lu, die unerbittlich wohlmeinende Lehrer und Dichter verreißt, lässt Hölderlins Gedicht „Hälfte des Lebens“ gelten, ohne dass sie da die Idee schon haben könnte, dass es rückschauend die Mitte sein mag, wo ein Leben am besten läuft.
Es gibt darin Schwäne, jene Tiere, die Lu rühren und die sie als unbedarftes Kind mit dem größten Staudamm in Zusammenhang gebracht hat. Immerhin hat Lu vor fast nichts Angst als vor dem Pathos eines Genitivs in Gedichttiteln, des Kasus der Abhängigkeit. Lu fühlt sich ungebunden und hat schon Schuld auf sich geladen. Tulpe hat, um die Fesseln ihrer Familie zu sprengen, ihre Ungebundenheit demonstriert – auf Kosten ihrer Tochter, von der wir nur erfahren, dass sie übergewichtig, einsam und auf ihre Mutter böse ist.
Wie Tulpe sich vom „Auslaufen“ bedroht fühlt, geniert sich Lu für ihre „Sintflut“, das Schluchzen, und die „Blindwut“. Die Rührbarkeit hat sie von Mutter und Großmutter, vor dem Wütendwerden fühlt sie sich machtlos. Lu möchte ihre Gefühle kontrollieren und ist misstrauisch gegen den Psychotherapeuten, zu dem ihre Eltern die Pubertierende schicken, die ihnen oft grundlos traurig erscheint.
Ein anderes Motiv sind die beiden (Schutz- und Todes-)Engel in dem Buch: der eine, ein schwarz gekleideter, unheimlicher Motorradfahrer, der Lu anfangs Angst einjagt, lässt die nächtliche Beifahrerin durch eine ihr unbekannte Gegend rätselhafterweise mitten in der Landschaft absteigen. Später wird Lu erkennen, dass er sie zur Pension „Schöne Gegenwart“ gebracht hat. Erst auf den letzten Seiten des Buches wird klar, warum sich Lu diesen „Darth Vader“ als Führer in die Unterwelt ausgedacht oder eingebildet hat. Er entspricht ihren gemischten Gefühlen für den Ex-Freund Lukas. Ihm hat sie eine Schwäche nicht verziehen, mit ihm Schluss gemacht und damit seinen Tod im Motorradsattel auf dem Gewissen: Lukas ist Lus dunkler Schatten, verfolgt und belastet sie. Das Wort „Nacht“ fürchtet sie nun stellvertretend für alle Nächte, die ihr, hell wie Mondlicht, die Einsicht zu Bewusstsein bringen: Durch genommene Freiheit und Entscheidungsstärke wird man mitunter an anderen schuldig.
Marchel befleißigt sich, sobald es um Tulpes Vergangenheit geht, eines völlig anderen, elegischen Tons mit Neigung zum Sentiment. Man nimmt ihn als Tulpes innere Erzählerstimme wahr. Direkt hören wir Tulpe nie, bestenfalls in Rollenspielen mit ihrer Interviewpartnerin. (Aus dem Zusammenhang wird allerdings klar, dass sie Lu eine Menge über sich mitgeteilt haben muss.)
So solide Marchel die Geschichte aufbaut, so mühelos passen sich der Handlung poetische Aufmerksamkeiten ein, etwa die Blondheit von Lus Körperhärchen betreffend, als ihr beim Kopfstand das T-Shirt verrutscht. Es gibt eine Reihe von Wortbildungen, dem Erzähl- und Beschreibungs¬fluss wie nebenher entsprungen. Auch die einzige erotische Szene des Buches ist ganz leichthin gelungen.
Ein Leitmotiv ist Matthias Claudius’ frühromantisches Gedicht „Der Mond ist aufgegangen“. In der versöhnlichen Katharsis des Buches werden die Protagonistinnen gemeinsam eine „Umlegung“ dieses Lieds in die Popmusik singen, Mike Oldfields „Moonlight Shadow“ – für Lu eine traurige Lebenslast; desgleichen bedeutet für Tulpe das Claudius-Gedicht romantische Sehnsucht. Der „kalte Abendhauch“ in der Pension und der „kranke Nachbar“, den Tulpe anfangs zum Ablenken von ihrer eigenen Alkoholsucht erfindet, entstammen dem Gedicht. Es heißt darin, man möge Gott mitten im Leben loben, indem man annimmt, was die Gegenwart bietet – ein Motto, zu dem der Leser kommt, spielt er Marchels Versuchsanordnung in der „Schönen Gegenwart“ durch.
Dass „Moonlight Shadow“ im Gewissen der jungen Protagonistin mit dem mehrfach erwähnten „Erlkönig“ zusammen hängt und der untote „Nosferatu“, nicht von ungefähr immer dann auf der Leinwand läuft, wenn sein Anagramm Arthur in Tulpes Leben tritt, sind Fährten, die Marchel uns legt.
Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass der lang mit Tulpe lebende Oliver im Vornamen auch eine Pflanze, sogar eine genießbare, birgt; so wie Tulpe, Lu und Lukas je zwei Buchstaben gemeinsam haben.
Lu, die unerbittlich wohlmeinende Lehrer und Dichter verreißt, lässt Hölderlins Gedicht „Hälfte des Lebens“ gelten, ohne dass sie da die Idee schon haben könnte, dass es rückschauend die Mitte sein mag, wo ein Leben am besten läuft.
Es gibt darin Schwäne, jene Tiere, die Lu rühren und die sie als unbedarftes Kind mit dem größten Staudamm in Zusammenhang gebracht hat. Immerhin hat Lu vor fast nichts Angst als vor dem Pathos eines Genitivs in Gedichttiteln, des Kasus der Abhängigkeit. Lu fühlt sich ungebunden und hat schon Schuld auf sich geladen. Tulpe hat, um die Fesseln ihrer Familie zu sprengen, ihre Ungebundenheit demonstriert – auf Kosten ihrer Tochter, von der wir nur erfahren, dass sie übergewichtig, einsam und auf ihre Mutter böse ist.
Wie Tulpe sich vom „Auslaufen“ bedroht fühlt, geniert sich Lu für ihre „Sintflut“, das Schluchzen, und die „Blindwut“. Die Rührbarkeit hat sie von Mutter und Großmutter, vor dem Wütendwerden fühlt sie sich machtlos. Lu möchte ihre Gefühle kontrollieren und ist misstrauisch gegen den Psychotherapeuten, zu dem ihre Eltern die Pubertierende schicken, die ihnen oft grundlos traurig erscheint.
Ein anderes Motiv sind die beiden (Schutz- und Todes-)Engel in dem Buch: der eine, ein schwarz gekleideter, unheimlicher Motorradfahrer, der Lu anfangs Angst einjagt, lässt die nächtliche Beifahrerin durch eine ihr unbekannte Gegend rätselhafterweise mitten in der Landschaft absteigen. Später wird Lu erkennen, dass er sie zur Pension „Schöne Gegenwart“ gebracht hat. Erst auf den letzten Seiten des Buches wird klar, warum sich Lu diesen „Darth Vader“ als Führer in die Unterwelt ausgedacht oder eingebildet hat. Er entspricht ihren gemischten Gefühlen für den Ex-Freund Lukas. Ihm hat sie eine Schwäche nicht verziehen, mit ihm Schluss gemacht und damit seinen Tod im Motorradsattel auf dem Gewissen: Lukas ist Lus dunkler Schatten, verfolgt und belastet sie. Das Wort „Nacht“ fürchtet sie nun stellvertretend für alle Nächte, die ihr, hell wie Mondlicht, die Einsicht zu Bewusstsein bringen: Durch genommene Freiheit und Entscheidungsstärke wird man mitunter an anderen schuldig.