Kickboxen mit Lu

Roman

Autor:
Roman Marchel
Besprechung:
Ute Eisinger
 

Roman

Kickboxen mit Lu – Roman Marchels Versuchsanordnung zeigt Kämpfe um die Sehnsucht im Leben

Während die eine, müde von einem langen und intensiven Leben und unzufrieden mit dem Ergebnis, vorhat, aus der Welt zu scheiden, indem sie sich mit Whisky zu Tode säuft, braucht die andere nach einem Schock, der erst am Ende des Buches verraten wird, eine Nachdenkphase. Von diesem Punkt aus werden so manche Passagen und Kunstgriffe des Romans im Nachhinein klar. Ein zweites Lesen offenbart erst so richtig die kompositorische Meisterschaft in Marchels scheinbar drauflos geredetem Teenager-Monolog.

Das Handy in Tulpes Schoß fungiert als Aufnahmegerät. Nachmittags gibt sie vor, sie müsse sich um ihren sterbenden Nachbarn im Stockwerk über ihrem Zimmer kümmern. In Wirklichkeit trinkt sie in der Einsamkeit eines leeren Zimmers, bis sie – Marchel spart, wie Jonathan Franzen in den „Korrekturen“, Inkontinenz als wesentliches Problem alter Menschen nicht aus – bewusstlos in ihr oder aus dem Bett fällt oder es nicht mehr aus dem Sessel auf die Toilette schafft.
Tulpe Valentin, deren vom Autor beschriebenes schriftstellerisches Werk an Haushofers, Bachmanns, Schwaigers, Jelineks erinnert, wirkt um zwei Jahrzehnte älter, als sie ist. Lu sieht ihr an, dass sie durch die Hölle gegangen ist, und es wäre nicht Lu, würde sie es nicht auf der Stelle frei heraus sagen, ja mit ihrer Kaltschnäuzigkeit später die gemeinsame Abschiedsszene um bedeutungsvolle Worte bringen: „Du bist nichts als eine alte Säuferin!“, ruft sie, schon ganz ihre Eltern, als diese die Entwischte aus Tulpes nach Schnaps riechendem Zimmer zerren, sie heimzuholen.

In den Nächten tippt Tulpe Valentin – nicht nur die Gesprächs¬protokolle. Nur in diesen wachen Stunden findet sie Frieden. Dagegen scheut sich Lu, „in der Nacht“ auch nur auszusprechen; es handelt sich um eine tiefer sitzende Angst, nicht bloß eine Geschmacksfrage. Und während Tulpe im Rausch mehr und mehr deliriert und nur noch einmal in der letzten Nacht, als Lu schon fort ist, Frieden findet, hat die Junge begonnen, nachts wachzuliegen.

Worin besteht nun der heilsame Effekt Lus auf Tulpe? Physische Rettung kommt zu spät: Die Schnapsflasche wird sie in letzter Konsequenz vom Leben erlösen. Vielmehr wirkt der Komplott, den Marchel durch Kombination der beiden Frauen mit dem Leser schmiedet, therapeutisch: „Kickboxen mit Lu“ zeigt, dass es für alles Erlösung gibt: Für einen Autor ist zu schreiben das Ruder, mit dem sich falsches Entschiedenhaben zurückreißen lässt. Mit diesem Instrument kommt er durch die Welt und erklärt sich seine Spur in ihr. „Wenn man nur weiter lebt, findet sich immer für alles eine Erklärung“ (S. 126). Für Tulpe besteht das Weiterleben in Menschen wie Lu. Sie weiß das Ruder weiter gegeben und kann erleichtert ihren Abschied nehmen.

Sobald Lu erzählt, steigt der Schreibwille bei Tulpe. Sie, die eine ungleich schwierigere Jugend hatte, entschied sich früh für einen unerreichbaren Mann und idealisierte eine gemeinsame Zukunft mit diesem Arthur, weil keine Gelegenheit für ein Leben mit ihm war. Dafür schätzte sie die Wirklichkeit und ihre weniger mutigen Zeitgenossen gering. Tulpe vernachlässigte wohl auch ihr Muttersein, zugunsten von Ungebundenheit und Freiheit des Liebens, um zu schreiben: „Ihr Schreiben wurde ihr selbst zum Liebhaber <...> Es konnte sie antreiben und anfeuern zu unerhörter Dringlichkeit und entzündlicher Gegenwart“ (S. 148) Tulpe lebte nur für die Sehnsucht.
Als der Zufall sie Arthur ein zweites Mal treffen lässt, verlässt sie den Mann, bei dem sie es gut hat, Oliver. Die Verbindung mit der Großen Liebe Arthur wird eine Enttäuschung, der Energiestrom Sehnsucht ist gekappt: Folge ist das Auseinanderlaufen ihres Lebens, Tulpe vergleicht sich mit einem Flussdelta. (Als noch unverständliche Metapher hat sie das Bild vom Delta zuerst für das Auseinanderlaufen ihrer und der Ansichten ihrer entfremdeten Tochter verwendet – zum Missfallen Lus, die darin eine literarische Ausrede erkennt.) Anstatt entschieden dem Meer zuzurinnen, verwässerte sich vom Moment der falschen Entscheidung an Tulpes Lebenswille. Oder soll man schreiben: verschnapste? Zu Ende ihres Lebens erkennt Tulpe ihren Tod als ein solches „Auslaufen“ an und bringt das Bild vom Delta noch einmal auf. Der Mann ihrer Lebensmitte, Oliver, der für den lang ersehnten Arthur aufgegeben wurde, hatte die Autorin durch seine bloße Präsenz daran hindern können, „am Sehnen auszulaufen“ (S. 185): Er ließ Tulpe sein, wie sie war, sodass sie weder kämpfen noch lügen musste. Bei Oliver „war“ sie einfach, wie sie – dank Lu, die ihr, der „Ausgetrockneten oder leer Getrunkenen“ „die Schleusen öffnet, die Staumauer sprengt“ (S. 175) – in den letzten Stunden ihres Lebens in der „Schönen Gegenwart“ endlich wieder eintippt: „Tulpe ist“.