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Gedichte
Unbeirrt modern. Doris Runge' gesammelte Gedichte - »zwischen tür und engel«
Aber lassen wir dieses heikle psychologische Thema und kehren zurück zum poetischen Verfahren. Man hat der Autorin immer ihre Knappheit bescheinigt, die sich fernab aller Geschwätzigkeit aufs genau kalkulierte Notwendigste beschränkt. Aber gerade da muss es auffallen, wenn ein Gramm zu viel auf die Waage gelegt wird. Eine Frage, die ich Lyrikern schon gestellt habe, ohne eine befriedigende Antwort zu bekommen (Doris Runge hat sie möglicherweise in ihren Poetik-Vorlesungen behandelt): Wie weiß man, wann ein Gedicht zuende ist? Braucht es Mut, einen Schlusspunkt zu setzen, wenn man am liebsten noch ein bisschen nachlegen möchte? Und wo ist umgekehrt die Grenze zur Miniatur, zum Aperçu, wenn fast schon der Haiku-Umfang erreicht ist? Ich möchte zwei Favoriten anführen, die mir eine gute Balance zu halten scheinen:
mimikry
es streicht durch
rattenschwänzige gassen
hockt auf dem dach
riecht angst
buckelt zeigt
der mausäugigen
zwei gelbe monde
seit tagen
dieses
feine weiße
rieseln
knochenmehl
was treiben sie
im siebten stock
haben engel
knochen
bricht man sie
uns ist so kalt
seit tagen
In Heinrich Deterings Nachwort, das viele schöne Komplimente enthält, heißt es zum Schluss:
Doris Runges kontinuierlich gewachsenes Werk, das man schon lange nicht mehr schmal nennen kann, hat eine Sprachkunst entfaltet, deren Strenge und Schönheit ganz für sich stehen. Es ist konsequent modern, weil es aus der dunklen, der unruhigen und beunruhigenden Romantik kommt, weil es deren Bildvorrat lebendig erhält, indem es ihn entromantisiert.
Nun könnte die Autorin bei den jungen Lyrikern von heute kaum einen Blumentopf gewinnen, eben weil sie vielleicht modern, aber nicht postmodern ist. Aber was ist das genau? Und ruft nicht schon irgendwo jemand das Ende der Postmoderne aus? Doris Runge dichtet, wie ihr der lyrische Schnabel gewachsen ist, und wird vermutlich dabei bleiben, ohne sich um die IN/OUT-Listen der Szene zu kümmern. Das würde auch zu Verbiegungen führen.
Auf meinem Bücherregal steht schon seit Jahren mit stummer Mahnung ein gerahmtes Sätzchen von Friedrich Schlegel:
Affektation entspringt nicht sowohl aus dem Bestreben, neu,
als aus der Furcht, alt zu sein.
Exklusivbeitrag
Doris Runge: zwischen tür und engel Gesammelte Gedichte geb., 256 S., ISBN 978-3-421-04584-3, Euro 22,99, DVA München 2013
Christa Wißkirchen hat zuletzt über »die form der druck das meer« von Gregor Däubler auf Fixpoetry geschrieben.